Der Workshop „Materialität als Herausforderung. Der spätmittelalterliche Codex im Fokus der Historischen Grundwissenschaften“ wurde von STEFAN HOLZ und CHARLOTTE KEMPF (beide Heidelberg) als Vertreter der beiden Teilprojekte A06 und B10 des Heidelberger Sonderforschungsbereich 933 „Materiale Textkulturen“ ausgerichtet und widmete sich der Erforschung spätmittelalterlicher Codices aus materialitätsgeschichtlicher Perspektive. Wie STEFAN HOLZ in seiner Einleitung betonte, steht das Konzept der Materialität, begriffen als die Summe aller stofflichen Eigenschaften eines Artefakts, in enger Verbindung mit praxeologischen Fragestellungen, das heißt der Untersuchung der menschlichen Benutzungspraktiken am Objekt. In vier Sektionen stellten acht junge Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen exemplarische Analysen aus verschiedenen Bereichen der Grundwissenschaften (insbesondere der Kodikologie), der Objektbiographie, der Bildmedien sowie des Druckwesens vor, wobei jeweils sowohl Chancen als auch Schwierigkeiten materialitätsgeschichtlicher Ansätze diskutiert wurden.
Die Struktur des Workshops legte einen besonderen Schwerpunkt auf Möglichkeiten zur Diskussion, indem am Ende jeder Sektion zuerst ein Kommentator wesentliche Punkte der vorangegangenen beiden Vorträge zusammenfasste, eigene Eindrücke beschrieb und Fragen aufwarf. Diese Kommentare leiteten in die sich an die Sektionen anschließenden Diskussionen über, die jeweils etwa eine Dreiviertelstunde umfassten. Eine abschließende Debatte, die Themen aus den vorangegangenen Diskussionen vertiefte, beendete die Tagung. Dass auf zwei Vorträge stets ein Kommentar und eine eigene Diskussion folgten, half dabei übergeordnete Problemstellungen und Zusammenhänge leichter zu erkennen und stellte sicher, dass jeder Vortrag angemessen und umfassend zur Geltung kam. Diskussionsstoff war reichlich gegeben und dank dieses Formats, mussten keine relevanten Fragen und Erörterungen aus Zeitmangel außen vor bleiben.
Im Rahmen der ersten Sektion „Materialität und Kodikologie“ wurde anhand zweier Beispiele nach dem Einfluss der Praxeologie auf die Form spätmittelalterlicher Codices gefragt sowie die Bedeutung des Beschreibstoffes diskutiert. So stellte sich die Frage, ob das Prinzip „form follows function“ materiale Entwicklungen des Codex erklären könne, oder ob sich die Materialität nicht primär durch den Verwendungszusammenhang, sondern durch Tradition oder Erwägungen der Haltbarkeit erklären ließe.
JENNIFER ENGELHARDT (Stuttgart) beleuchtete in ihrer Analyse die verwirrende Anordnung des „Roten Buches“ der Stadt Esslingen und kam zu dem Ergebnis, dass sich der heute vorliegenden Gliederung kein klarer Sinnzusammenhang zuschreiben lässt. Die Neuanordnung der einzelnen Blätter und die Umstrukturierung der Lagen im Laufe der Geschichte dieses Codex machten zudem die Rekonstruktion der ursprünglichen Ordnung unmöglich.
Wie in der Diskussion aufgebracht wurde, könnte eine Erklärung für die arkane Strukturierung des Inhalts in der Praxis der Benutzung durch den Stadtschreiber sein, der memoriert hatte wo er welche Inhalte finden konnte. Vielleicht aber war der Akt des Festhaltens auch wichtiger, als auf die festgehaltenen Informationen zugreifen zu können.
ANNE RAUNER (Straßburg) wiederum untersuchte die Entwicklung von Jahrzeitbüchern aus der Diözese Straßburg vom 12. bis ins 14. Jahrhundert. Sie beschrieb verschiedene Entwicklungen wie beispielsweise den Übergang von Pergament zu Papier, die Aufnahme detaillierterer Informationen zu den einzelnen Verstorbenen in die Necrologien oder Veränderungen in der Seitengestaltung. Insgesamt scheinen die Necrologien, die eigentlich liturgischen Zwecken dienten, zunehmend administrativen Bedürfnissen angepasst worden zu sein.
Die zweite Sektion widmete sich dem Konzept der Objektbiographie im Verhältnis zur Materialität des untersuchten Schriftträgers. Die Ziele des objektbiographischen Ansatzes sind einerseits die Rekonstruktion der unterschiedlichen Produktions- und Verwendungskontexte und andererseits die Analyse verschiedener Identitäten eines Artefaktes im historischen Verlauf. Eine intensive Diskussion betonte die Chance, durch ein attraktives Narrativ wie das der Objektbiographie zu einem besseren Verständnis der Funktion(sweise) mittelalterlicher Codices zu gelangen. Erörtert wurden aber auch die Grenzen dieser Methode angesichts der Versuchung, lückenhafte Überlieferungsbefunde zugunsten einer Biometapher in eine scheinbar vollständige und lineare Form umzuwandeln.
Im Bewusstsein dieser Herausforderungen entwarf ROBERT FRIEDRICH (Leipzig) eine Biographie des Codex Ms. UB Leipzig 1551, indem er zunächst aufgrund einer Analyse der sprachlichen und paläographischen Merkmale Metz als Entstehungsort identifizierte und anschließend die Aufbewahrungs- und Nutzungshistorie des Objekts bis in die Gegenwart beleuchtete. Die Objektbiographie beschrieb er dabei als Neubündelung bekannter Methoden und hob hervor, welche Rolle insbesondere der Erforschung von, vor allem auch mittelalterlichen, Sammlungsprozessen in Bibliotheken und privaten Beständen zukomme.
AARON JOCHIM (Heidelberg) problematisierte die Objektbiographie anhand des sogenannten „Armorial d’Urfé“ (Paris, BnF, Ms Fr. 32753) und warf seinerseits die Frage nach dessen Verwendungen von seiner Entstehung bis in die Neuzeit auf. Besonderes Interesse erhielt dabei die Frage, welche funktionalen Vorteile die rein blasonierte Darstellung von Wappen möglicherweise gegenüber illustrierten Wappenbüchern gehabt haben könnte, und inwieweit Gestaltungsmerkmale von Codices durch den Verweis auf Traditionen und Modeerscheinungen ihrer Entstehungszeit erklärt werden dürfen.
Die dritte Sektion „Materialität und Bildmedien“ beschäftigte sich mit der Bedeutung von Bildern in spätmittelalterlichen Büchern und deren Verhältnis zum Text. KARIN BECKER (Hamburg) befasste sich in ihrem Vortrag mit den praxeologischen Aspekten von Psaltermanuskripten. Sie zeigte auf, dass aus der Gestaltung der Manuskripte Rückschlüsse auf deren Verwendung gezogen werden können, da die Bildelemente die Leseerfahrung intensivieren und Literalillustrationen teilweise erst durch Vorlesen verständlich werden und somit darauf hinweisen, in welcher Form die Manuskripte rezipiert wurden. Im zweiten Vortrag dieser Sektion untersuchte DENISE TRUMP (Köln) den Codex ÖNB Ms 1800 aus dem Besitz Philipps des Guten bezogen auf seine Praxeologie und Verwendungsperformanz. Anhand dieses Verbundobjekts von Buch und Diptychon demonstrierte sie, wie das Objekt dazu befähigt, mobilere religiöse Räume zu schaffen. Bezogen auf die Bedeutsamkeit der Bild- und Textebene formulierte sie die Erkenntnis, dass beide in ihrer materialen Präsenz trotz eventuell memoriertem Inhalt integrale Bestandteile der Religionsausübung sind.
Die vierte Sektion „Materialität und Druckwesen“ sowie der öffentliche Abendvortrag „Handschrift und Buchdruck im 15. Jahrhundert. Aspekte einer medialen Konvergenz“ untersuchten die Form früher Drucke.
FALK EISERMANN (Berlin) argumentierte in seinem Abendvortrag dafür, Drucke des 15. Jahrhunderts nicht völlig von spätmittelalterlichen Handschriften abzusondern, und präsentierte verschiedene Arten einer medialen Konvergenz von Handschrift und Buchdruck in der Inkunabel. So beschrieb er, wie Handschriften als Vorlagen von Drucken dienten, wie Inkunabeln handschriftlich vervollständigt wurden, und wie zuweilen gedruckte Texte wieder abgeschrieben wurden. Vor allem betonte er die Individualität früher Drucke. So existierten wie bei Handschriften oft große Unterschiede zwischen einzelnen Exemplaren.
JAN HILLGÄRTNERs (St. Andrews) Beitrag beschrieb die Entwicklung von Nachrichtendrucken im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit und stellte einen interessanten thematischen Exkurs abseits der Form des Codex dar. Er beobachtete Veränderungen im Inhalt der Nachrichtendrucke, die ursprünglich Texte mit religiöser oder politischer Botschaft waren und zu reinen Nachrichtenmedien wurden. Die Materialität dieser Drucke scheint sich jedoch nur wenig verändert zu haben.
Mit ihren theoretischen Ausführungen äußerte sich CHARLOTTE KEMPF (Heidelberg) abschließend zu den Problemen des Begriffs „Materialität“. Besondere Aufmerksamkeit wurde dabei dem Altorientalisten Markus Hilgert gezollt, der in seinem Konzept der „Text-Anthropologie“ die Begriffe „Materialisierung“ und „Präsentifizierung“ für die Untersuchung des Nicht-Textes von beschriebenen Artefakten entwickelte. Davon ausgehend erweiterte sie STEFAN HOLZs (Heidelberg) einleitende Definition von Materialität um eine praxeologische Komponente, indem sie die Interaktion zwischen Artefakt und Akteur in den Begriff der Materialität mit einschloss. Dies erfordere die Untersuchung von Rezeptionspraktiken, auch wenn dieser nicht unerheblichen Quellenprobleme im Weg stünden.
In der gemeinsamen Abschlussdiskussion wurden folgende Punkte nochmals betont: Die Bedeutung des „material turn“ wurde ausgiebig diskutiert, der entweder als eine neue Herangehensweise bereits bestehender Methoden der Historischen Grundwissenschaften oder aber als komplette Neuausrichtung der Geisteswissenschaften bewertet wurde. Denn dieser stellt die fundamentale Frage, ob durch den Fokus auf Texte die Bedeutung des Textträgers vernachlässigt wurde. Ebenfalls wurde darauf hingewiesen, dass einige Disziplinen der Geschichtswissenschaft (wie die Sphragistik und die Numismatik) schon deutlich vor dem „material turn“ artefaktzentriert gearbeitet hatten.
Zudem wurde auf die Positionierung der Grundwissenschaften innerhalb der historischen Forschung eingegangen. Hierbei wurde deren institutionelle Trennung von der textzentriert arbeitenden Geschichtswissenschaft einerseits kritisch bewertet, allerdings wurde auch darauf hingewiesen, dass diese Trennung Vorteile für die Personalsituation oder die Traditionsbildung bieten kann. In diesem Zusammenhang wurde ein intensiverer Dialog zwischen den Grundwissenschaften und der allgemeinen Geschichtswissenschaft gefordert.
Auch wurde die Herausforderung der Grundwissenschaften durch den „material turn“ thematisiert und die Notwendigkeit einer Neupositionierung aufgezeigt. Gleichzeitig wurde aber auch auf die Chancen hingewiesen, die sich als gesteigerte Aufmerksamkeit für die Grundwissenschaften durch den „material turn“ ergeben haben.
Abschließend kann man den Workshop als gelungen betrachten. Die einzelnen Beiträge gingen oft sehr in die Tiefe, waren aber allgemein verständlich gehalten und die Diskussion bot die Möglichkeit zur Abstraktion und methodischen Auseinandersetzung. Dabei kamen auch viele (selbst-)kritische Stimmen und Nachfragen zu Wort, mit denen sich die Teilnehmer intensiv auseinandersetzten, sodass sich die Tagung methodischen Problemen der Materialität gewinnbringend stellen konnte.
Konferenzübersicht:
Jörg Peltzer (Heidelberg): Begrüßung
Stefan Holz (Heidelberg): Einführung
Sektion 1: Materialität und Kodikologie
Gabriel Meyer (Heidelberg): Moderation
Jennifer Engelhardt (Stuttgart): Das „Rote Buch“ der Stadt Esslingen – zur methodischen Erschließung eines „dynamischen Stadtbuchs
Anne Rauner (Straßburg): Materialität und Funktionen der spätmittelalterlichen Necrologien aus den Pfarreien der Diözese Straßburg im Fokus der Kodikologie
Laura Velte (Heidelberg): Kommentar
Sektion 2: Materialität und Objektbiographien
Imke Just (Heidelberg): Moderation
Robert Friedrich (Leipzig): Aus dem Leben eines Codex – Ms UB Leipzig 1551 und die Cölestiner zu Metz
Aaron Jochim (Heidelberg): Geschichtete Objekte visuellen Wissens: Materielle Aspekte in der Untersuchung spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Wappenbücher
Ivonne Kornemann (Leipzig): Kommentar
Abendvortrag
Falk Eisermann (Berlin): Handschrift und Buchdruck im 15. Jahrhundert – Aspekte einer medialen Konvergenz
Sektion 3: Materialität und Bildmedien
Adrian Heinrich (Heidelberg): Moderation
Karin Becker (Hamburg): Organisation und Funktionalität. Zum Zusammenhang von Gestaltung und Gebrauch mittelalterlicher Psaltermanuskripte
Denise Trump (Köln): Buch und Diptychen als Verbundobjekt. Die Raumkonzeption des Codex 1800 der Österreichischen Nationalbibliothek
Lisa Horstmann (Heidelberg): Kommentar
Sektion 4: Materialität und Druckwesen
Anuschka Holste (Heidelberg): Moderation
Jan Hillgärtner (St. Andrews): Nachrichtendrucke der Frühdruckzeit. Die Bedeutung eines übersehenen Formats
Charlotte Kempf (Heidelberg): Materialität der gedruckten Kommunikation. Herausforderungen und Probleme
Davina Brückner (Mainz): Kommentar
Schlussdiskussion
Stefan Holz und Charlotte Kempf (Heidelberg): Moderation