Der Europäische Traum ist nicht tot
Ich gebe zu, ich habe schon oft Europawahlen ausgelassen. Zu folgenlos erschien mir die Abgabe meiner Stimme zu sein in einem Europa, das bis heute mit seinen demokratischen Defiziten nicht ausreichend reformiert worden ist. Insbesondere zwischen dem EU-Parlament und dem Europäischen Rat besteht ein Missverhältnis aufgrund der geschwächten legislativen Gewalt des Parlaments und der Entscheidungsbefugnisse des Europäischen Rats und den dort tagenden Länderchefs. Bezeichnenderweise werden die Entscheidungen in Europa von dem politischen Führungspersonal getroffen, das national gewählt ist. Sie werden auf diese Art getroffen, obwohl diese Entscheidungen dann für alle Europäer gelten sollen.
Am Sonntag werde ich aber zur Wahl gehen. Denn die Europäische Union als Friedensprojekt ist die bedeutendste Errungenschaft in Europa nach dem 2. Weltkrieg. Ohne Wenn und Aber. Damals erkannten die führenden Politiker, dass eine friedliche Zukunft davon abhängt, den Kontinent politisch und wirtschaftlich neu zu ordnen und nationale Identitäten neu zu bestimmen. Zu groß war der Schock über das Blutvergießen in Europa durch die beiden Weltkriege, die rund 100 Millionen Menschenleben gekostet hatten.
Diese Errungenschaft will ich nicht den Rechtsradikalen überlassen, die Europa mit ihrem Nationalismus vergiften wollen. Ich weiß zwar noch nicht, wen ich wählen werde. Ich weiß aber, wen ich nicht wählen werde: die AfD. Ich möchte mit meiner Stimme meinen kleinen Beitrag dafür leisten, die Erzählung von Europa wiederzubeleben. Das große Ganze ist aus dem Blick geraten. Gerade deswegen fehlt eine politische Linie. Es gibt zum Beispiel keine einheitliche politische Positionierung der EU innerhalb des Nahostkonflikts. Es gibt auch keine einheitliche Flüchtlingspolitik. Gerade weil die ideelle Identifikation verloren gegangen ist, besteht Europa unter seinen Mitgliedern überwiegend nur noch als pragmatischer Deal. Die Auswirkungen der von Deutschland bestimmten Sparpolitik im Zuge der Finanzkrise haben zu dem Bruch in Europa geführt.
Deshalb ist es nötig, die Erzählung von Europa zu erneuern, um Europa in der sich neu ordnenden Welt mit einer multipolaren Ordnung zu stärken. Ein starkes Europa kann umso überzeugender dafür eintreten, dass die entscheidenden Menschheitsfragen wie beim Klimaschutz, der Migration, der Bekämpfung von Pandemien oder die Sicherung von Handelsrouten eigentlich ohne einen regelbasierten Multilateralismus nicht zu lösen sind. Das heißt, Europa ist prädestiniert, wie Jeremy Rifkin einmal sagte, aufgrund seines Bewusstseins des Eingebundenseins zu begreifen, dass es in einer Weltrisikogesellschaft keine Autonomie gibt, sondern alles miteinander verknüpft ist, so wie die Natur „aus Myriaden symbiotischer Beziehungen“ besteht. Könnten also die Vereinigten Staaten von Europa mit einer gemeinschaftlichen Sozial-, Arbeits- und Finanzpolitik nicht Teil einer solchen Erzählung sein?
Bild: Tagesschau
