Öffentlicher Brief an den Bayerischen Staatsminister für Unterricht und Kultus, Prof. Dr. Michael Piazolo
23. April 2020
Sehr geehrter Herr Kultusminister!
Diese Woche erreichte viele Eltern Ihr Brief zur Öffnung der Schulen und „Lernen zuhause“. Als Mutter eines schulpflichtigen Kindes in der Abschlussklasse der Realschule habe ich Ihr Schreiben mit Interesse und Aufmerksamkeit gelesen. Vier DINA-4-Seiten. Gefüllt mit Dankesworten, Appellen und verbunden mit dem Hinweis, dass „die mit der Corona-Pandemie verbundene Ausnahmesituation…uns alle vor Herausforderungen (stellt), die bislang nicht vorstellbar waren“. Gleichzeitig erreichte uns alle eine Liste von Hygieneregeln und Verhaltensmaßnahmen für die SchülerInnen. Insgesamt fast drei DINA-4-Seiten. Nach dem Studium der Liste der notwendigen Pflichten tauchten eine ganze Reihe von Irritationen auf. Ich hoffe, Sie können diese beantworten oder gar auflösen:
Ab dem 27. April findet der Unterricht in geteilten Klassen statt – maximal 15 Schüler. Maskenpflicht scheint in den Schulräumen nicht nötig zu sein. Informationsstand 16.04.2020: „Treffen mit mehreren Freunden ist weiterhin nicht mehr erlaubt. Eine zusätzliche Kontaktperson pro Haushalt ist jetzt allerdings im Freien erlaubt.“ (BR3.de) Können Sie mir erklären, wie die letztgenannte Regelung mit der Erlaubnis von max. 15 Jugendlichen in einem Raum (nicht im Freien) zusammenpassen will? Und vor allem: Diese Jugendlichen gehören definitiv nicht zu einer Familie, die bisher im geschützten Rahmen gelebt hat.
Folgt daraus, dass ab 27. April Versammlungen von bis zu 15 Personen erlaubt sind – sogar ohne Maske, im Freien wie im geschlossenen Raum bei garantiert 1,5 Meter Abstand zueinander? In der Gastronomie, in Veranstaltungsräumen wäre das möglich. Das ist aber nicht der Fall. Wo liegt jetzt der Unterschied zu den 15 SchülerInnen in einem Klassenzimmer?
Beim Einkauf im Einzelhandel gilt Maskenpflicht. Unsere Kinder müssen derweilen keine Masken in der Schule tragen. Wo ist der Unterschied? Gibt es in der Schule potentiell kein Corona?
„Schüler und Lehrer mit Vorerkrankungen sowie Lehrkräfte über 60 Jahren müssen trotz der schrittweisen Öffnung der Schulen dort zunächst nicht am Unterricht teilnehmen.“ (Merkur.de). Stellen Sie sich bitte folgendes vor: Die Schüler sitzen stundenlang in einem Raum. 1,5 Meter Abstand. Sie kommen nach Hause, sitzen mit Eltern, Geschwistern an einem Tisch, essen, reden, lachen. Wer sorgt für den Schutz der Familien? Der Eltern, die über 60 sind? Der Geschwister und Eltern mit Vorerkrankungen? Wie können diese Menschen sich vor den eigenen Kindern/Geschwistern schützen, die mehr oder weniger ungeschützt mit Freunden in einem Raum gesessen sind oder gar (mit Maske) in der Bahn oder im Bus gefahren sind?
Verdachtsfälle einer Corona-Erkrankung sollen sofort gemeldet werden – Schüler mit Symptomen sollen zuhause bleiben. Haben wir nicht gelernt, dass die Infektionsgefahr bei Corona schon einige Tage vor der Wahrnehmung von Symptomen hoch sei?
Österreich öffnet die Schulen sogar nach uns – und hat bei weitem weniger Coronafälle. Warum ist das in Bayern anders? Angesichts der Coronazahlen gerade in Oberbayern eine fragwürdige Entscheidung.
Weitere Empfehlungen an die SchülerInnen lauten: Häufiges Händewaschen, nicht zu zweit auf die Toilette gehen, das Klassenzimmer häufig Lüften, kein Körperkontakt, kein Austausch von Arbeitsmitteln, Stiften, Linealen. Zur Sicherheit gibt es keine Gruppen- oder Partnerarbeiten. Die Jugendlichen bleiben sogar in der Pause in einem Raum. Und vieles mehr. Ich wünsche den Lehrkräften viel Erfolg bei der Überwachung all dieser theoretisch richtigen Maßnahmen!
Haben Sie eigentlich mal die Betroffenen befragt? Die RektorInnen, die LehrerInnen, die SchülerInnen, die SekretärInnen, die HausmeisterInnen? Meinen Sie, dass eine dieser Gruppen mit fliegenden Fahnen und begeistert sich dem Risiko einer Coronainfektion aussetzen möchte? Und das in offiziell empfohlenen Szenarien, die wirklich alle bisherigen Maßnahmen der Bayerischen Regierung und der Bundesregierung ad absurdum führen? Jetzt, nachdem wochenlang Ausgangsbeschränkungen herrschten und immer noch herrschen?
Sehr geehrter Professor Piazolo, Bildung ist wichtig. Aber Hand aufs Herz – machen ein paar Wochen (Präsenz-)Unterricht für den Abschluss den Unterschied im Leben? Werden unsere Kinder, wenn sie zuhause in einem geschützten Rahmen virtuell weiterlernen (vielleicht weniger lernen), deshalb schlechtere StudentInnen oder schlechtere HandwerkerInnen oder schlechtere Auszubildende? Und was ist, wenn der ganze Organisationsaufwand und das stillschweigend akzeptierte Gesundheitsrisiko umsonst waren, weil: Die Prüfungen aufgrund möglicherweise gestiegener Corona-Neuinfektionen durch die Lockerungen gar nicht stattfinden können? Nichts ist garantiert.
Mittlerweile haben sich die meisten an das Lernen zuhause gewöhnt – die Lehrkräfte haben ihre bevorzugte Videoplattform gefunden, das Chaos vom Anfang ist weitgehend im Griff, Lern- und Unterrichtsrhythmen sind entstanden, der virtuelle Nachhilfeunterricht läuft. Endlich läuft es! Und jetzt das Hohelied auf den Präsenzunterricht für Abschlusskandidaten mit einem absolut benennbaren Gesundheitsrisiko – für alle.
Wieviel gesünder und einfacher wäre es (für alle), den SchülerInnen die Wahl zu lassen: Abschluss mit den Durchschnittsnoten (wie es bei den Viertklässlern schon längst der Fall ist) oder auf Wunsch die Abschlussprüfung schreiben. Wieviel einfacher wäre es, an den Klausurtagen nur einen Bruchteil der prüfungswilligen Jugendlichen in einem riesigen leeren Schulgebäude ein paar Stunden unterzubringen – mit Abstand, unter Aufsicht und die Jugendlichen nach der Prüfung von den Eltern oder Verwandten abholen zu lassen. Wenige Prüfungstage und weniger SchülerInnen bedeuten ein wesentlich geringeres Risiko – für alle.
Der erste Jugendliche, der nachweislich an einer Coronainfektion erkrankt, weil er/sie in der Schule war, geht auf Ihr Konto, Professor Piazolo. Von der Ansteckung der Familienangehörigen gar nicht zu reden. Wir Eltern haben wochenlang alles dafür getan, dass unsere Jugendlichen sich und damit auch Ihr soziales Umfeld schützen. Mit dem 27. April ändert sich für einen Teil der Bevölkerung eigentlich alles. Ich fühle mich, meine Kinder, unsere Gesundheit der Willkür des Staates ausgeliefert. Wir Eltern schicken unsere Kinder – obrigkeitshörig – auf die Schulbank. Oder sollte ich sagen: Corona-Schlachtbank? Der Maßnahmenkatalog für die Öffnung der Schulen ist nicht durchdacht und nicht geeignet für eine kurzfristige oder langfristige Lösung.
Und ich beende diesen Brief mit einem Satz aus Ihrem Brief: „Die Sicherung gerechter Bildungschancen ist eine zentrale Aufgabe unseres Bildungswesens.“ Ich erlaube mir den Satz umzuformulieren: „Die Sicherung der Gesundheit der Bevölkerung ist eine zentrale Aufgabe eines aufgeklärten Staates, dem Bildung am Herzen liegt.“
Ich wünsche Ihnen und Ihren KollegInnen weiterhin Schutz vor Corona in geschützten Räumen und viel Gesundheit.
Hochachtungsvoll
Anja Gild M.A., Landkreis Miesbach
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4 JahreLiebe Anja ! Ich finde den offenen Brief sehr gut und wichtig. Allerdings musste ich einige Male stutzen und vermute, dass Deine Perspektive recht einseitig ist. Du schreibst beispielsweise: „Mittlerweile haben sich die meisten an das Lernen zuhause gewöhnt – die Lehrkräfte haben ihre bevorzugte Videoplattform gefunden, das Chaos vom Anfang ist weitgehend im Griff (...)“. -> schön, wenn du es so erlebst. Bei uns und bei anderen Familien liegen Welten dazwischen. Kein Online Unterricht, nur Aufgaben an die Kinder, beide Eltern arbeiten (Tag und Nacht) von daheim... -> weder in die eine noch in die andere Richtung funktionieren Pauschalantworten...