Über das Alt werden
Steinherz. Künstlerin: Anita Wiesner. Bild: Martin Dürr

Über das Alt werden

Alt werden:

Ja, das beschäftigt mich mehr als auch schon.

So rein körperlich melden sich einige Organe und Knochen und Muskeln und Sehnen und sagen: Hallo, Alter! Die Garantie läuft langsam ab.

Die Seele sagt öfters als auch schon:

Mann, bin ich müde.

Muss das jetzt wirklich auch noch sein?

Wem muss ich noch was beweisen?

Ich habe übrigens noch zweieinhalb Jahre bis zur Pensionierung vor mir, nur damit das klar ist. Vor zweieinhalb Jahren gab's noch kein Corona (erinnert sich jemand?) und wer von einer Invasion Russlands in der Ukraine geschwafelt hätte, wäre ziemlich seltsam angeschaut worden.

Zweieinhalb Jahre sind kurz, aber gleichzeitig auch noch lang. Da gibt's noch einige Gelegenheiten, etwas Sinnvolles zu tun.

Dass Jüngere übernehmen und ohne dich planen ist völlig okay. Es ist sogar vernünftig.

Damit kann ich gut leben.

Ich habe mich nie nur über meine Arbeit definiert.

Mir waren Beziehungen und Freundschaften immer wichtiger.

Das Schwierigste am älter werden ist auch nicht der Gedanke ans Sterben.

Klar, supertoll ist das nicht. Ich weiss ja auch nicht genau, wie das dann funktioniert und hoffe, dass ich vor langer Krankheit und Schmerzen bewahrt bleibe.

Ich bin dazu ziemlich zuversichtlich, dass der Tod nicht das Ende von allem ist. Sondern der Anfang von etwas unbeschreiblich heiter und sinnvollem Neuem.

Wenn ich mich irre und dieses Leben hier alles ist: Kein Problem. Der Gedanke an ein Leben nach dem Tod hat mich nie gelähmt. Sondern beflügelt.

Kann ich ein anderes Mal ausführlicher erklären, wenn's euch interessiert.

Jetzt geht es mir darum, was für mich heute am schwierigsten ist:

Je älter du wirst, desto weniger werden die Menschen, an die du du dich wenden kannst, wenn du nicht mehr weiter weisst.

Beide Eltern sind gestorben, viele aus ihrer Generation auch.

Die meisten Lehrer und Lehrerinnen, der langjährige Seelsorger, die Hausärztin, ein alter Kollege schon lange dement.

Aber nicht nur das.

Auch unter deinen älteren Freunden sind einige sehr wichtige nicht mehr da.

Du bist schon jetzt älter als manche geworden sind.

Das heisst übrigens keineswegs, dass es nicht viele Gleichaltrige und vor allem jüngere Menschen gibt, von denen du viel hältst und noch viel lernen kannst. Es ist für mich ein grosses und tiefes Glück, dass meine Kinder (und Grosskinder!) mich schätzen und in ihr Leben einbeziehen. Oder dass ehemalige Schülerinnen und Schüler sich zwischendurch melden.

Die jungen Menschen machen mir Hoffnung für diese Welt.

Weil sie sich engagieren, mit Herzblut und Fantasie und Bildung und Ausdauer, inmitten von grössten Herausforderungen.

Nein, das grösste Problem beim Älterwerden erlebe ich darin:

Da ist niemand mehr, an den oder an die du dich anlehnen kannst.

Da ist kein Fallnetz mehr, wenn du auf dem hohen Seil die Balance verlierst.

Da ist niemand mehr, der dich väterlich oder die dich mütterlich umarmt, wenn du Mist gebaut hast. Und sagt: Ich habe dich trotzdem lieb.

Es gibt die weisen Väter und Mütter nicht mehr für dich.

Okay, noch in der Literatur und der Kunst und in Briefen und in den wertvollen Erinnerungen.

Aber wir Menschen brauchen Stimmen, sichtbare Zuwendung in Blicken, körperliche Gegenwart.

Gespeicherte Soundbites, Fotos und Zoomsitzungen reichen nicht.

Langsam setzt sich die Erkenntnis durch: Da ist niemand mehr.

Da ist keine und keiner mehr obendran.

Jetzt bist du gefragt.

Du erschrickst zutief.

Ich?

Ich bin noch gar nicht so weit. Ich kann das nicht.

Ich will das nicht. Ich bin nicht weise.

Mir fehlt alles, was es braucht. Ich habe noch viel zu wenig Erfahrung.

Nützt alles nichts.

Du bist gefragt.

Mit allen Mängeln, mit allen Fehlern, Fehlentscheidungen und Dummheiten, die du mitbringst.

Du bist gefragt.

Wie dir auf entscheidende Fragen Google und Wikipedia nicht weiterhelfen, wollen jüngere auch nicht dein angelerntes Wissen kennen lernen.

Sondern dich. Mit allem was du bist und nicht bist.

Das ist erschreckend.

Und ein bisschen ist es auch schön.

Du darfst einfach nie vergessen, dass du nicht alle Antworten hast.

Versuch die Fragenden ernst zu nehmen.

Erinnere dich an die Mütter und Väter, die dir geholfen haben, wenn du nicht mehr weiter wusstest. Es waren nie die Alles- und Besserwisser.

So, Alter.

Und jetzt geh raus. Ein bisschen langsamer, ein wenig kurzatmiger, schneller müde als früher.

Tu nicht so, als wärst du 20 Jahre jünger. Aber bewahr dir eine junge Seele und einen jungen, offenen Geist.

Gib Ratschläge nur dann, wenn dich jemand danach fragt.

Sei liebevoll zu den Trostlosen und Verängstigten.

Schenk den Geknickten Aufmerksamkeit und Hoffnung.

Lass dich überraschen.

Sei Sand im Getriebe der geölten Welt.

Nicht als Verhinderer von Neuem, sondern als Infragesteller von Althergebrachtem.

Nimm die Steine aus deinem Leben und nutze sie als Bausteine für ein grosses Herz.

Du musst nichts mehr beweisen.

Du kannst dir erlauben, was jüngere nicht dürfen.

Nutze deine Freiheit.

Sag Dinge, die niemand sagt.

Halt die Klappe, wenn du nichts zu sagen hast.

Tu was du liebst und liebe, was du tust.

Du bist jetzt gefragt.

Karin B.

Lehrerin am Standort Gotthelf

2 Jahre

Auch das Mittendrin-Sein ist nicht immer einfach...man möchte den eigenen Kindern möglichst viel Gutes auf den Weg geben, in der Hoffnung, nicht komplett zu versagen und den Älteren oder anderen (immer) gerecht werden, wenn man es nicht so macht, wie man sollte oder es mal anders versucht. Ich denke, jede Phase hat so seine Tücken und zum Glück immer auch richtige und wichtige Wegbeleiter:innen - egal, wie alt oder jung oder junggeblieben sie sind!

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