Über die Kunst der Besetzung des Verwaltungsrates – ein Überblick
Wie soll der Verwaltungsrat einer schweizerischen Aktiengesellschaft idealerweise zusammengesetzt sein? Aus wie vielen Personen soll der Verwaltungsrat bestehen? Wie stellt man ein Anforderungsprofil für den Verwaltungsrat zusammen? Welche Kompetenzen muss jedes Verwaltungsratsmitglied mitbringen? Diese Fragen werden mir in meiner Beratungstätigkeit bei Binder Rechtsanwälte sowie in meinem Unterricht an der University of St.Gallen immer wieder gestellt.
Während man hierzu mehrtätige Seminare halten und zahlreiche Best Practices (oder zumindest Good Practices) erläutern kann, muss ich es auf LinkedIn bei einem kurzen Überblick belassen. In der gebotenen Kürze erörtere ich,
Zum einen oder anderen Aspekt werde ich mich in weiteren Beiträgen, die im Laufe der nächsten Wochen und Monate erscheinen werden, noch vertieft äussern.
1. Gesetzliche Vorgaben an den Verwaltungsrat und dessen Mitglieder
Fast keine unmittelbaren gesetzlichen Vorgaben. Bemerkenswerterweise finden sich im Gesetz fast keine Vorgaben für den Verwaltungsrat einer schweizerischen Aktiengesellschaft bzw. für dessen Mitglieder. In Art. 707 Abs. 1 OR wird festgehalten, dass der Verwaltungsrat aus einem oder mehreren Mitgliedern bestehen muss, und aus Art. 707 Abs. 3 OR ergibt sich, dass nur natürliche Personen in den Verwaltungsrat gewählt werden können. Das Amt als Mitglied des Verwaltungsrates steht dabei nur denjenigen natürlichen Personen offen, die handlungsfähig sind. In der juristischen Doktrin findet sich auch die Auffassung, dass die Handlungsfähigkeit nicht erforderlich sei und Urteilsfähigkeit genüge; mir persönlich ist allerdings kein einziger Fall bekannt, in welchem eine minderjährige Person in den Verwaltungsrat gewählt wurde – somit ist die Rechtsfrage, ob das Gesetz Handlungsfähigkeit oder bloss Urteilsfähigkeit verlangt, zwar theoretisch interessant, aber in der Praxis ohne Relevanz.
Der eine oder andere erinnert sich vielleicht noch: Bis Ende 2007 galt die gesetzliche Regel, dass die Verwaltungsratsmitglieder spätestens ab Amtsantritt Aktionäre der Gesellschaft sein mussten (Art. 707 Abs. 1 und 2 aOR), wobei auch ein treuhänderisches Halten einer einzigen Qualifikationsaktie akzeptiert wurde. Zudem forderte Art. 708 Abs. 1 aOR, dass die Mehrheit der Verwaltungsratsmitglieder in der Schweiz wohnhaft ist und das Schweizer Bürgerrecht (oder, wie das Eidgenössische Amt für das Handelsregister klarstellte, das Bürgerrecht eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union) besitzt. Beide Erfordernisse waren nicht mehr zeitgemäss und wurden daher per 1. Januar 2008 abgeschafft. Heute ist nur noch erforderlich, dass die Aktiengesellschaft durch eine Person (bzw. – bei kollektiver Zeichnungsberechtigung zu zweien – durch zwei Personen) vertreten werden kann, die ihren Wohnsitz in der Schweiz hat (bzw. haben); dabei muss es sich aber nicht um zwingend um ein Mitglied des Verwaltungsrates handeln (Art. 718 Abs. 4 Sätze 1 und 2 OR).
Das schweizerische Aktienrecht enthält insbesondere keine Vorgaben hinsichtlich der persönlichen Befähigungen der Verwaltungsratsmitglieder. Allerdings muss jedes einzelne Verwaltungsratsmitglied über die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, um sein Amt mit der gesetzlich geforderten Sorgfalt ausüben zu können; dazu gehören Fachkompetenzen ebenso wie soziale und methodische Kompetenzen. Schliesslich muss ein Verwaltungsratsmitglied so viel zeitliche Ressourcen mitbringen, dass es das Verwaltungsratsmandat auch dann sorgfältig wahrnehmen kann, wenn aufgrund einer sich abzeichnenden oder bereits bestehenden Unternehmenskrise erhöhe zeitliche Anforderungen an die Verwaltungsratstätigkeit gestellt werden. In diesem Sinne sind zahlreiche «mittelbar wirksame Kriterien» (Peter Böckli, Schweizer Aktienrecht, 5. Aufl., Zürich/Genf 2022, § 9 N 40), die sich aus der gesetzlichen Regelung des Systems der schweizerischen Aktiengesellschaft ableiten, zu beachten.
Statutarische Normierung von Wählbarkeitsvoraussetzungen und -schranken. Die Statuten der Aktiengesellschaft können nähere Regelungen zum Verwaltungsrat treffen. Insbesondere sind allfällige statutarische Wählbarkeitsvoraussetzungen bzw. -schranken (wie z.B. Alters- oder Amtszeitbeschränkungen) zu berücksichtigen.
Festlegung spezifischer Kriterien in einem Aktionärbindungsvertrag. Den Aktionären ist es unbenommen, im Rahmen eines Aktionärbindungsvertrags Kriterien festzulegen, nach welchen potenzielle Verwaltungsratsmitglieder identifiziert und evaluiert werden. Regelmässig wird zusätzlich eine Stimmbindung der am Aktionärbindungsvertrag beteiligten Aktionären normiert. Die entsprechenden Regeln sind vertraglich verbindlich (und folglich von den aktionärbindungsvertraglich gebundenen Aktionären zu beachten), haben aber keine aktienrechtliche Wirkung.
2. Grösse des Verwaltungsrates
Der Einpersonen-Verwaltungsrat – gesetzlich zulässig, aber alles andere als optimal. Zunächst ist festzuhalten, dass der Verwaltungsrat im System der schweizerischen Aktiengesellschaft als Gremium konzipiert ist, in welchem mehrere Mitglieder unter Anwendung eines definierten Willensbildungs-, Entscheidfindungs- und Beschlussfassungsverfahren die Aufgaben des Verwaltungsrat gemeinsam wahrnehmen, wobei Vorbereitungs- und Umsetzungsaufgaben delegiert werden können (und zwar nicht nur an Verwaltungsratsausschüsse oder einzelnen Mitgliedern, wie Art. 716a Abs. 2 OR ausdrücklich festhält, sondern auch z.B. an die Geschäftsleitung). Dennoch kommt es – insbesondere bei Kleinstgesellschaften – regelmässig vor, dass der Verwaltungsrat mit nur einer einzelnen Person besetzt ist. Das Gesetz lässt dies zwar zu (vgl. Art. 707 Abs. 1 OR), doch versteht sich von selbst, dass ein Einpersonen-Verwaltungsrat die dem Gremium zugedachte Leitungs- und Aufsichtsfunktion kaum wahrnehmen kann: Wohl ist auch im Einpersonen-Verwaltungsrat eine rein formelle Beschlussfassung möglich (und auch erforderlich), Diskussionen innerhalb des Verwaltungsrates finden aber keine statt und das einzige Verwaltungsratsmitglied wird kaum je in der Lage sein, allein sämtliche erforderlichen Kompetenzen abzudecken. Denkbar ist der Einpersonen-Verwaltungsrat daher höchstens in Kleinstgesellschaften (insbesondere dort, wo man es mit einem «inkorporierten Einzelkaufmann» [Böckli, a.a.O., § 9 N 32] zu tun hat) sowie in Gesellschaften, die als abhängige Gesellschaften vollständig in einen Konzern eingeordnet sind und im Wesentlichen von der Konzernobergesellschaft gesteuert werden.
Die ideale Grösse: Es kommt darauf an. Die ideale Grösse des Verwaltungsrates ist abhängig von der Grösse der Gesellschaft und der Komplexität ihrer Geschäftstätigkeit, aber auch von Einzelfallumständen (zu denken ist namentlich an wesentliche Entwicklungen im Unternehmen, die gerade ablaufen, oder an einen anstehenden Generationenwechsel im Verwaltungsrat). Generell gilt: Der Verwaltungsrat soll nicht zu klein sein, damit er sämtliche ihm obliegenden Aufgaben sorgfältig und wirkungsvoll erfüllen kann; er soll aber auch nicht so gross ausfallen, dass er ineffizient wird. Verwaltungsräte mit 25 Mitgliedern, wie man sie früher bei grossen Unternehmen mitunter angetroffen hat, gibt es heute nicht mehr.
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«Drei für kleine Unternehmen, fünf für mittelgrosse Unternehmen und sieben für grosse Unternehmen» ist ein bekannter Merksatz für die empfohlene Anzahl Verwaltungsratsmitglieder – allerdings einer, der deutlich zu starr ist und der situativen Dimension von Corporate Governance nicht gerecht wird. Insbesondere ist zu beachten, dass das Gesetz und die Börsenregularien für den Verwaltungsrat einer Aktiengesellschaft mit börsenkotierten Aktien zusätzliche Aufgaben vorsehen und dass die Besetzung der empfohlenen Verwaltungsratsausschüsse eine genügend grosse Anzahl Verwaltungsratsmitglieder erfordert; bei Gesellschaften mit börsenkotierten Aktien ist eine Grösse von neun bis elf Mitgliedern somit realistischer (obgleich es in der Schweiz durchaus auch Gesellschaften mit börsenkotierten Aktien gibt, deren jeweiliger Verwaltungsrat verhältnismässig klein ausfällt). Ab einer Grösse von zwölf Mitgliedern wird der Verwaltungsrat allerdings schwerfällig und ineffizient.
Ungerade Anzahl Mitglieder. Mit Blick auf eine gute Corporate Governance wird empfohlen, den Verwaltungsrat (sowie andere Gremien, die ihre Entscheidungen mit Mehrheitsbeschluss und nötigenfalls mit Stichentscheid des oder der Vorsitzenden treffen) mit einer ungeraden Anzahl Mitgliedern zu besetzen. Dadurch soll die Notwendigkeit eines Stichentscheides möglichst verhindert werden, womit die Vormachtstellung des Verwaltungsratspräsidenten bzw. der Verwaltungsratspräsidentin etwas eingeschränkt wird. Allerdings darf man die Praxisrelevanz dieser Empfehlung nicht überbewerten: Zum einen ist nicht garantiert, dass die Beschlüsse des Verwaltungsrates stets mit der vollen Besetzung (und damit einer ungeraden Anzahl Stimmen) getroffen werden – schliesslich kommt es vor, dass ein Mitglied des Verwaltungsrates an der Beschlussfassung nicht teilnehmen kann, z.B. weil es sich im Ausstand befindet oder weil es krankheitsbedingt ausfällt. Vor allem aber sind Stichentscheide in der Praxis kaum je erforderlich; die meisten Verwaltungsratsbeschlüsse werden einstimmig oder mit einer klaren Mehrheit getroffen. Hat sich zu einem Traktandum keine herrschende Meinung unter den Verwaltungsratsmitgliedern gebildet, bedeutet dies oftmals, dass innerhalb des Verwaltungsrates weiterer Diskussionsbedarf besteht und der Beschlussgegenstand noch nicht abstimmungsreif ist.
3. Personelle Zusammensetzung des Verwaltungsrates
Bei der personellen Zusammensetzung des Verwaltungsrates gilt es, auf Dreierlei Rücksicht zu nehmen:
In der Corporate Governance wird die Unabhängigkeit der Mitglieder als ein wichtiges Kriterium für die Besetzung des Verwaltungsrates genannt; in gewissen Branchen (z.B. bei Banken) ist die Unabhängigkeit eines spezifischen prozentualen Anteils der Verwaltungsratsmitglieder sogar rechtlich vorgeschrieben (bei schweizerischen Banken grundsätzlich ein Drittel der Verwaltungsratsmitglieder [vgl. FINMA-Rundschreiben 2017/1 vom 22. September 2016 betreffend Corporate Governance bei Banken, Rz. 17 ff.]). Dabei finden sich zahlreiche Definitionen, wann ein Verwaltungsrat als unabhängig gilt. Oftmals wird an der Unabhängigkeit von der operativen Ebene und an der Abwesenheit geschäftlicher Beziehungen zur Gesellschaft angeknüpft: Nach diesem Verständnis dürfen Verwaltungsratsmitglieder, um als unabhängig zu gelten, aktuell nicht Mitglied der Geschäftsleitung sein und dieser auch nicht in einem definierten vergangenen Zeitraum (z.B. in den letzten drei Jahren) angehört haben, und sie dürfen mit der Gesellschaft in keinen (oder in nur verhältnismässig geringfügigen) geschäftlichen Beziehungen stehen (vgl. z.B. Ziff. 15 des Swiss Code of Best Practice for Corporate Governance von 2023). In kleinen und mittelgrossen Gesellschaften und in Familiengesellschaften bezieht sich das Unabhängigkeitskriterium regelmässig auch auf die Unabhängigkeit von den Hauptaktionären.
Neben der Unabhängigkeit im engeren Sinne ist auch eine Interessenungebundenheit bedeutsam: Wenn ein Aktionär einen Interessenvertreter in den Verwaltungsrat entsendet (was möglich und – unter Beachtung gewisser Rahmenbedingungen und Grenzen – zulässig ist), entsteht ein ganzer Strauss an rechtlichen und praktischen Problemen, auf die ich zu einem späteren Zeitpunkt in einem separaten Post zu sprechen kommen werde. Ganz von diesen Problemen abgesehen ist hervorzuheben, dass der unvoreingenommene Blick eines externen Dritten im Verwaltungsrat helfen kann, bisher noch nicht erkannte Probleme und Verbesserungspotenziale zu identifizieren.
Besonders problematisch kann die Entsendung bzw. Abordnung eines staatlichen Vertreters in den Verwaltungsrat einer Aktiengesellschaft mit staatlicher Beteiligung (insbesondere in einer ordentlichen Aktiengesellschaft, aber auch in einer gemischtwirtschaftlichen Aktiengesellschaft) sein, der sowohl der Wahrung des Gesellschaftsinteresses verpflichtet ist wie auch das öffentliche Interesse zu beachten hat – ein Themenbereich, den ich in meiner Dissertation (Roman S. Gutzwiller, Die Einflussmöglichkeiten des Staates auf die Strategie einer Aktiengesellschaft mit staatlicher Beteiligung, Diss. St.Gallen, Zürich/St.Gallen 2017) ausführlich erörtert habe.
4. Erstellung von Anforderungsprofilen
Es gibt unterschiedliche Instrumente, die dem Verwaltungsrat (und den Hauptaktionären) helfen, eine sinnvolle und ausgewogene Besetzung des Verwaltungsrates und seiner Ausschüsse (sofern es welche gibt) zu erreichen. Ein wichtiges Hilfsmittel stellen Anforderungsprofile dar, die der Verwaltungsrat (bzw. das Nomination Committee), gegebenenfalls in Absprache mit den Hauptaktionären und im Bedarfsfall unter Beizug externer Board-Governance-Experten, erstellt.
Dabei sind drei Arten von Anforderungsprofilen zu unterscheiden:
Dr. oec. HSG ǀ Research Associate in Entrepreneurship (Board of Directors, Strategic Change, and Leadership) at the University of St.Gallen
1 MonatEine hervorragende Übersicht, die du uns bereitstellst! Sehr lesenswert, herzlichen Dank dafür 😊