Über Natur, Vernunft und Rationalität
Gerd Wagner mag im Rückblick auf Repliken zu Eberts Text beispielhaft für jene stehen, die nach meinem Hinweis auf die Gefahren der Mathematisierung der Welt geschrieben haben, dass da „eigentlich nur diejenigen Philosophen helfen, die auch Naturwissenschaftler lesen, und dass es davon leider nicht viele gibt. Die anderen labern zu viel oder reden zu oft von Dingen, die sie nicht verstehen.“
Hoppla, das sind starke Worte, wie überhaupt viele starke Worte gegen Philosophie in der Diskussion über den Ebert-Beitrag fallen. Vor allem fällt mir die China-Schwärmerei auf. Zeit, sich mit den starken Worten ausführlicher zu beschäftigen, einen Blick in die Entwicklungsgeschichte zu werfen und die Grenzen der positiven Wissenschaften zu markieren.
Wer so schreibt, sollte zwangsläufig sehr vertraut sein mit der komplexen und wechselhaften Geschichte der Philosophie und der Naturwissenschaften, weil sonst die Frage erlaubt sein muss, wie solche Worte begründet werden können. „Die anderen labern zu viel…“ Mit Verlaub, wer labert denn da was?
Jede höhere Zivilisation ruht im Grundsatz auf ethischen und politischen Grundlagen, die antike Philosophen entwickelt haben, und auf besonderen kulturellen Leistungen jener Zeit, auf Theater, auf Bildender Kunst und Musik, die zum Selbstverständnis der Menschen in ihren Kulturen den wesentlichen Beitrag leisten.
Das alles haben uns die alten Griechen und ihre Philosophen und Künstler geschenkt. Dieser Reichtum bildet das Fundament unserer reichhaltigen europäischen Kultur. Wer dieses Fundament in Abrede stellt, die Bedingungen der Freiheit missachtet und alle Formen des kulturellen Ausdrucks in ihrer Bedeutung für eine humane Gesellschaft übersieht oder verkennt, bewegt sich sicheren Schrittes in Richtung Dekadenz.
Menschen, die im höchsten Sinne Menschen sind, hat der römische Senator Plinius die Griechen genannt, ein Menschenschlag, schreibt der Althistoriker Christian Meier, „der sich kaum in Spezialisten aufteilte, in partielle Bezüge verlor, vielmehr sich gleichsam rundum auszubilden hatte, körperlich, geistig, seelisch, wie er uns ja auch in den griechischen Statuen entgegentritt, dort freilich als Ideal. Jeder möglichst ein Ganzes, das Allgemeine in sich ausprägend und alles stark auf allgemein-menschliche Problematik konzentriert.“
Auf dieser Lebensweise und diesem Selbstverständnis ruht nicht zuletzt die Renaissance, die deutsche Klassik und der Idealismus der Zeit von 1770 bis 1830 mit seinem humanistisch geprägten Menschenbild, mithin das zentrale Fundament unserer Gegenwartskultur.
Diesem Menschenschlag, diesen Griechen ging es um Vernunft, um vernünftigen Organisation des (Stadt-)Staates und der ihn tragenden Stadtbürger, nicht bloß um Rationalität und dem damit verbundenen, womöglich eingeschränkten Wahrheitsbegriff. Das Dilemma der Gegenwart liegt ja u.a. darin, dass sich die einzelnen Interessengruppen durchaus rational verhalten, in Summe ihr Tun aber unvernünftig ist, weil das Einzelinteresse auf Kosten des Ganzen priorisiert wird, was nun zunehmend erkennbar ins Desaster führt. Darum ging es mir mit meinem Hinweis auf Husserl, auf die Schattenseite der Mathematisierung der Welt und die rational organisierte Umweltzerstörung und den damit verursachten Klimawandel.
Die Rationalität der positiven Wissenschaften hat die Natur zum bloßen Objekt menschlicher Aneignung und Ausbeutung gemacht. Die Tragik liegt darin, dass sich dieser Prozess gegen die Natur und letzten Endes gegen den Menschen selbst richtet. Die „Dialektik der Aufklärung“ weist nach, dass am Ende dieses Irrweges unter bestimmten Bedingungen die industriell organisierte Vernichtung von Menschen durch Menschen stehen kann.
Rationalität versus Vernunft: Auch das meint Husserl, wenn er vom Verlust der Lebensbedeutsamkeit der positiven Wissenschaften spricht. Um im Bild zu bleiben: Was nutzt mir auf den ersten Blick die Allgemeine oder Spezielle Relativitätstheorie, was darf ich von den positiven Wissenschaften (Naturwissenschaften) erwarten, wenn ich über Wohlstand und Armut, über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit entscheiden muss oder das Thema Umweltzerstörung oder Ökologie diskutiere und einen Hinweis geben muss, wohin die Reise künftig auf wessen Kosten gehen sollte?
Husserl spricht vom „Versagen der rationalen Kultur“, womit ein zweiter wichtiger Punkt angesprochen ist: Der falsche Gegensatz von Philosophie und Naturwissenschaft, wie er in den Kommentaren in dieser Rubrik konstruiert wird.
Sehen wir davon ab, dass schon Philosophen-Naturwissenschaftler wie Thales das Jahr auf 365 Tage berechnet, dass Anaximander die Evolution des Menschen beschrieben hat als eine Entwicklung, bei der Lebewesen aus dem Wasser kommen und sich auf dem Land entwickeln, dass Epikur überzeugt war, dass alle Materie aus kleinsten, unteilbaren Elementen, den Atomen, besteht, die sich unablässig bewegen und dass die Pythagoräer die Erde als einen Stern verstanden haben, der um einen Zentralkörper kreist – Erkenntnisse vorgetragen lange vor dem Aufstieg der positiven Wissenschaft in der frühen Neuzeit. Und ja, dass die Erde eine Kugel ist, gehört auch zu den frühen, bald vergessenen Einsichten der Alten Philosophen.
Es steht außer Frage, dass uns die Naturwissenschaft eine ungeheure Vielfalt und Menge an fragmentarischen Einsichten in einzelne Funktionszusammenhänge der Natur vermittelt hat, und ihre Entwicklung und Entfaltung war die vermutlich größte Revolution in der Menschheitsgeschichte. Zugleich aber haben die positiven Wissenschaften bis heute nicht ihr grundlegendes Dilemma bewältigt, dass sie nämlich als treibende Kraft die moderne christliche und nachchristliche Haltung zur Natur wesentlich mitgeprägt haben und Natur für sie – ich zitiere meinen Lehrer Iring Fetscher, lediglich ein „in mathematische Gleichungen darstellbares Beziehungssystem von Energiequanten“ ist.
Fetscher verweist in diesem Zusammenhang auf das Fatale in Descartes Ruf nach einer (positiven) Wissenschaft, „die uns zu Herren und Eigentümern (!) der Natur macht“. Aber Wissenschaft und Produktionstechnik liefern keine Zwecke und Ziele und geben unserem Leben und der Geschichte keinen Sinn, schreibt Fetscher.
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Es waren ja nicht Naturwissenschaftler, also die Repräsentanten der positiven Wissenschaften, die früh die Fehlentwicklungen erkannt und die Risiken benannt haben, die moderne Produktionsmethoden als Anwendungsfälle einer bloß rational organisieren Wissenschaft bergen, sondern moderne Philosophen und Ökonomen wie beispielsweise Marx und Engel, die vor den Folgen der Unterjochung der Natur gewarnt haben. Belege dafür lassen sich viele finden.
In der „Dialektik der Natur“ etwa schreibt Engels: „Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsren menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet haben, aber in zweiter Linie und dritter hat er ganz andre unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben.“
Weiter heißt es: „Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht, sondern, dass wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehen, und dass unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug zu allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“
Aber dazu bedarf es der wechselseitigen kritischen Reflexion von Geistes- UND Naturwissenschaften jenseits falscher Antagonismen. Die Entwicklung der Ökologie beispielsweise, wie sie Haeckel verstanden hat, hin zu einer politischen Ökologie, ist ohne Geistes- und sozialwissenschaftliche Ansätze gar nicht möglich gewesen, um nur ein Beispiel zu nennen für die wechselseitige Bereicherung von Geistes- und Naturwissenschaften.
Viel wäre gewonnen, wenn nicht nur in dieser Rubrik weniger geglaubt, angenommen und vermutet und mehr gewusst und verstanden würde, wenn statt Einzelaspekten und dem klassischen destruktiven Cherrypicking mehr das Ganze in den Blick geriete, mehr Vernunft walten würde.
Die Forderung nach einem Kanon, der verpflichtend zur Kenntnis zu nehmen wäre, bevor der Diskurs aufgenommen wird, wäre gewiss falsch und töricht. Das bemerkenswerte Selbstvertrauen mancher Autoren in dieser Rubrik aber, die zuweilen in dogmatischen Behauptungen, in unbegründeten Meinungen und Vorurteilen mündet, macht mich allerdings sehr nachdenklich.
Zu fragen wäre, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um einen Diskurs zu führen, der dem Anspruch gerecht wird, der in diesem Begriff steckt. Und es wäre gewiss ratsam, um der Empfehlungen eines anderen Lehrers an der Akademie der Arbeit an der Goethe-Universität zu folgen, weniger zu schreiben und mehr zu lesen.
„Wir werden erst dann beanspruchen können, einen neuen, langfristig lebensfähigen und auch des Daseins werten Ordnungszustand der Biosphäre herbeigeführt zu haben, wenn es uns gelungen sein wird, unser ganzes, globales Wirtschaften in einen gleichgewichtigen Kreislauf produktiven Auf- und Abbauens zu bringen, der nicht wie jetzt in atem-beraubendem Tempo schädliche Folgen in Form irreversibler Umweltbelastungen und -zerstörungen anhäuft.“ Diesen Gedanken, der alles auf den Punkt bringt, hat Hubert Markl, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) von 1986 bis 1991 formuliert.
Ich schließe mit einem Zitat aus dem Vorwort von „Natur denken“ von Peter Cornelius Mayer-Tasch: „Hoffen wir aber, dass die allzu schwatzhaft und dreist gewordene Menschheit begreifen wird, dass der Mensch wieder lernen muss zu schweigen, um die Natur wieder zu Wort kommen zu lassen- und dann auch zu vernehmen.“
Da hilft auch die Philosophie.
Es braucht eine Holistische Wissenschaft, die alle Disziplinen durchdringt. Vergleiche: https://lnkd.in/eMeTx_Jh & https://lnkd.in/eKqfSxdp (1988!) Frei nach Alexander von #Humboldt: https://lnkd.in/evp5eaNG
Science Comedian / Keynote Speaker
2 JahreIn meinem Posting ging es in der Tat darum, dass ich naturwissenschaftliche Grundbildung in Teilen des Bildungsbürgertums vermisse. Aber es ging nicht darum, dass ich im Gegenzug geisteswissenschaftliche Bildung unnötig finde oder ihr gar feindlich gegenüberstehe.
Der Analytiker
2 JahreDas Ganze begründet sich hingegen auf dem Mißstand, daß man einzig einen Bezug zu den Pilzen (er)kennt, jedoch nicht dem Myzel, worüber es sich begründet. Bereits der 'Philosophen' Begründung, war keine eigene, beruhte hingegen auf dem der Vorsokratiker, welche das Ihrige hingegen, aus der Konfrontation der sich aufklärenden Mythologien heraus erlangten. Des Wesens Kern verdeutlicht sich über das Sehen (des Lichts) - dem Ursprung des Menschen Sinnenbezug, dem gegenüber man im Verlaufe, sich einzig noch über das begründete, was über die Lichtreflektion das Erkennen begründet (explizit die Naturwissenschaft!). So lieferen eben auch die Sinneserfahrungen, weder Begründungen, noch Erklärungen, sodaß man daraus hervorgehend, deren Ermessen völlig außen vor stellte und stattdessen, über das etablierende Substantiv (Nomen) eine rein geistige Objektivität begründete, welche das Subjekt (naturwissenschaftlich 'explizit') nicht enthält. Ein nachvollziehendes 'Verständnis', ergibt sich hingegen generell einzig Denjenigen, welche 'erkennen', daß Sprache einzig ein Verweis IST und eben NICHT enthalten kann, was man sich von ihr verspricht.
Unternehmensinhaber Mandelkern
2 JahreUnterschreibe Vieles, lieber Jürgen Schultheis, aber nicht das positive Bild der Antike. Platon und Aristoteles waren Apologeten der Sklavenhaltergesellschaft, und die Polis war genauso verführbar durch Populisten, wie wir es heute sind (z.B. das Scherbengericht über Themistokles, den Sieger von Salamis). Vermutlich einige hundert Jahre vor den griechischen Philosophen hatte in China Lao Tse schon ein Konzept von Menschenrechten als Naturrecht entwickelt, das das Argument entkräftet, die Kritik an Platon und Aristoteles sei ahistorisch. Und die Dialektik hatte er auch schon drauf, lange vor den über Gebühr verehrten Müßiggängern von Athen.