6 Gründe, warum sich nicht alle Jugendlichen als Changemaker fühlen
Von Judit Costa
„Eigentlich sind wir alle Changemaker“ sagte Masha Borysenko, Mitgründerin des Vereins Vitsche. „Vitsche“ ist ein altes ukrainisches Wort für eine Versammlung, zu der mehrere Menschen zusammenkommen, wenn es ein Problem zu lösen gibt. Zu Beginn des Jahres 2022 entstand natürlicherweise in einer Berliner Bar so ein Vitsche und durch das gemeinsame Beraten wuchs ein gemeinsames Verständnis und der Wille etwas zu unternehmen. Einige junge Menschen können also ein Problem identifizieren, mit anderen gemeinsam beraten und den ersten Schritt zur Lösung zu gehen – doch gilt das für 13 Millionen Menschen unter 18 Jahren in Deutschland?
Noch haben wir keine Umfrage und keine Antworten, wie viele Deutsche unter 18 Jahren sich selbst als Changemaker sehen. Während der Wunsch nach politischer Partizipation und die Zahl der jungen Menschen im Ehrenamt wächst und ein hohes soziales Engagement dokumentiert, wächst aber auch die Zukunftsangst enorm. In einer Studie der Universität Bath mit 10.000 jungen Menschen stimmten 75 Prozent der Aussage zu „Die Zukunft ist beängstigend“
Aus dieser Zukunftsangst lässt sich vermuten, dass sich viele nicht als Changemaker fühlen. Warum könnte das so sein? Einige Thesen:
1.Die Probleme sind so unüberwindbar groß, ich selbst so klein
Wenn die Wälder brennen, Flutkatastrophen Dörfer wegreißen und die Gletscher schmelzen – warum soll ich dann den Müll trennen? Die Antworten der Generation der Erwachsenen aus den 1980er Jahren für den „Umweltschutz“, mit dem viele Jugendliche aufgewachsen sind, scheinen viel zu klein. Licht ausmachen, duschen statt baden, recyclen statt wegwerfen: Das soll genügen? Die Generation, die Fridays for Future ins Leben gerufen hat, hat erkannt, dass es größere und auch radikalere Antworten braucht. Nur wie dort die eigene Rolle finden, wenn einem sowohl politische Partizipation, freie Zeit als auch die Selbstwirksamkeitserfahrung fehlt?
2. Zählt meine Meinung überhaupt?
Mit einem Wahlrecht ab 18 Jahren wissen Jugendliche, dass ihre politische Meinung vor dem Erreichen dieses Alters nicht zählt. Auch wenn die Entscheidungen, die heute 60jährige Menschen fällen vor allem die heute 16jährigen betreffen werden. Wenn in einem vorpolitischen Raum Erfahrungen von Pseudo-Partizipation hinzukommen (also Partizipation, die eigentliche keine ist), geben Jugendliche verständlicherweise auf: auf Beliebtheit basierende Klassensprecher:innenwahlen, im Schülerrat nur Entscheidungsfreiheit für unbedeutende Entscheidungen, Ausschreibungen für das Mitgestalten von Spielplätzen ohne Rückmeldung – es gibt unzählige Formen von Pseudopartizipation.
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3. Freie Zeit verschwindet
Am Montag Fußballtraining, am Dienstag Nachhilfe, am Mittwoch Klavierstunde: die frei verfügbare und Zeit von Jugendlichen sinkt. Mit einem falsch verstandenen „Schließen von Lücken“, die durch Unterrichtsausfall in der Pandemie entstanden sind, werden Sommerschulen und Nachhilfeangebote in den Ferien geschaffen. Auch Erwachsene brauchen Zeit, die nicht durchgetaktet ist, in der Ideen entstehen können. Kinder und Jugendliche brauchen diese Zeit erst recht.
4. Selbstwirksamkeitserfahrungen gesucht
Selbstwirksamkeit ist die Überzeugung einer Person, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können (nach Albert Bandura). Selbstwirksamkeit zu erfahren ist für die Entwicklung von Kindern zentral. Steht Kindern immer weniger Raum zur Verfügung, weil sie zum Beispiel zur Schule gefahren werden, dort frontal beschult werden und im Anschluss direkt wieder in den Frühenglischkurs gebracht werden, dann fehlen Gelegenheiten zur Entwicklung von Selbstwirksamkeit. Wenn Kinder und Jugendliche mitgestalten und mitentscheiden können, holen sie sich Gelegenheiten, in denen sie Selbstwirksamkeit entfalten können. Sie bemerken auf dem Schulweg, wie ein Kätzchen in die Kanalisation gefallen ist, jemand eine Brieftasche im Bus liegengelassen hat oder wer auf dem Nachhauseweg von den Nachbarskindern geärgert wird.
5. Erfolg wird in Schulnoten gemessen
Zur Zeugnisausgabe wird gerechnet: In einigen Familien gibt es für jede 1 im Zeugnis einen Euro. Großeltern fragen nach den Noten, Eltern auch. Und Lehrkräfte benoten, was auf dem Papier nachweisbar und somit sichtbar ist. Was außerhalb der Schule passiert, bekommt selten die gleiche Anerkennung und wird als Erfolg stolz auf Familienfesten erzählt. Du hast gerade einen Flohmarkt organisiert und mit Deinen Freund:innen Bücher, Videospiele und Klamotten verkauft? Dafür gesorgt, dass alle wissen, wann der Flohmarkt startet, Stände aufgestellt und ziemlich gut verhandelt? Wahrscheinlich hast Du für das Leben gelernt, aber der Satz des Pythagoras ist leichter auf Papier nachweisbar. Die Zeit, die einige Jugendliche darauf verwenden in der eigenen Familie Verantwortung übernehmen, die jüngeren Geschwister aus der Kita abholen, Essen kochen und bei den Hausaufgaben helfen, ist unsichtbar.
6. Mentale Gesundheit
Die Pandemie, die Unsicherheit durch die Schulschließungen, und die daraus folgende Vereinsamung hat ihre Spuren in der mentalen Gesundheit vieler Jugendlicher hinterlassen. Aber auch auch vor der Pandemie war zum Beispiel Depression nicht so leicht zu benennen wie ein kaputtes Knie. Ein bewusster Umgang mit der eigenen psychischen und mentalen Gesundheit ist für Changemaker zentral. Denn um empathisch über ein Problem nachzudenken und mit anderen gemeinsam eine Lösung anzugehen, muss man sich selbst wohl genug fühlen. Put your own oxygen mask on first.
Junge Changemaker wachsen in einem Ökosystem
Einige Ashoka Fellows zeigen schon heute, wie Erwachsene die Gesellschaft gestalten können um ein Ökosystem für junge Changemaker zu schaffen: beispielsweise Margret Rasfeld mit dem Freiday, Jörg Knüfken mit Changewriters oder Jörg Schüler mit den Digitalen Helden. Die Verantwortung, die Gegenwart zu gestalten, liegt bei denjenigen, die Gestaltungsmacht haben. Sie handeln für die eigene Generation und für alle kommenden.