„Ach, da war doch noch der Mensch!“ – Der Fortschritt und das Mängelwesen
Dr. Roger J. Busch
Erich Kästner hat einmal geschrieben: „Es geht auf keinen Fall so weiter, wenn es so weitergeht.“ Das stimmt in mancherlei Hinsicht. Die Befürworter eines technologischen Fortschritts fordern eine deutlich stärkere Förderung von Innovationen und wagemutigen Unternehmern. Die Kritiker des technologischen Fortschritts rufen zum Innehalten, warnen vor einem zu schnellen Tempo der Veränderungen. Die Stimmen der Kritiker sind in den Kirchen lauter als die der Befürworter des Fortschritts. Es reizt, den Rationalitäten der einen und der anderen nachzugehen.
Fortschritt als Bedrohung des Sozialen und Mensch(lich)en?
Technik und Naturwissenschaften scheinen die Gestaltungsmacht an sich gerissen zu haben. Die Probleme, mit denen sich die Menschheit weltweit konfrontiert sieht, sind ja auch gewaltig und - so sieht es aus – nur durch intelligentere Technologien und umfassende naturwissenschaftliche Einsichten zu bewältigen.
Als ich vor 20 Jahren über den Fortschritt und das Mängelwesen geschrieben hatte, stand das Internet noch in den Kinderschuhen. Es gab Wissenschaftler, die davon ausgingen, dass es nur sehr wenige Menschen sein würden, die sich des Computers bedienen würden, schlicht, weil die zu teuer und für die Gestaltung des Alltags doch eigentlich bedeutungslos sein würden. Heute wissen wir, dass es ganz anders gekommen ist: In weniger als 20 Jahren haben sich die Technologien, die einst auf den Personal-Computer bezogen waren, auf internetbasierte Systeme verlagert. Der in den 90er Jahren euphorisch gepriesene PC wurde an alltagspragmatischer Bedeutung „längst“ abgelöst von Smartphones, die über heute eine Speicherkapazität verfügen, die einst der eines Großrechners in einem Forschungszentrum alle Ehre gemacht hätte.
Das war vor 20 Jahren noch ganz anders. 1997 fand in München die „Systems 97“ statt, eine große Computermesse. Etwa 200.000 Besucher strömten durch die Hallen und ließen sich von Computeranimationen und den damals schnellsten Rechnern faszinieren. Und schon damals verlautbarten die IT-Freunde, es gäbe kein Problem im Büro (sic!), das durch eine innovative Software nicht zu lösen wäre. Und tatsächlich verfing die selbstbewusste Ankündigung der Entwickler bei den meisten der Besucher. Manche Probleme, die diese damals schon sehr schnellen und hocheffizienten Softwaresysteme lösen konnten, wären den meisten Besuchern der Systems 97 wahrscheinlich noch nicht einmal eingefallen.
Heute haben wir mit den IT-Systemen leben gelernt. Die Technologie findet sich in jedem Lebensbereich und wird von Menschen fast jeden Alters genutzt. Sie ist aus keinem Unternehmen, keiner Behörde, keinem Bauernhof, keiner Metzgerei und nicht einmal aus einem Pfarramt wegzudenken.
Unsere Kinder und Enkel könnten sich ein Leben ohne Internet sicherlich überhaupt nicht mehr vorstellen. Ihr Zugang zur Technologie ist unbefangen – und zuweilen problematisch unbedarft.
Bei aller besinnungslosen Begeisterung für die aktuellen Möglichkeiten internetbasierter Kommunikation erscheint es doch angezeigt, einen genaueren Blick auf die Schattenseiten des einladenden Netzes zu werfen.
In Kreisen, angesichts derer so mancher meint, es mit Fortschrittsverweigerern oder schlichten Miesmachern zu tun zu haben, werden durchaus Problemstellungen erörtert, die einen intensiveren Blick und persönliches Engagement als dienlich erscheinen lassen:
Wir sind heute technisch vollumfänglich vernetzt.
Wir sind damit aber auch kalkulierbar geworden. Und manipulierbar.
Rück-Sichten: Da war doch noch der Mensch …
Globalisierung als wirtschaftliches und in gewissen Hinsichten kulturell durchschlagendes Phänomen, Internet als Plattform für All-Erreichbarkeit und All-Verfügbarkeit jedweder Information – all dies erscheint vielen Menschen bereits heute als ganz selbstverständlich. Sie wurden und werden eingebunden (sic) in die Interaktionslogik des Netzes. Werfe ich einen Blick auf die Auszubildenden meines Unternehmens, die in der Frühstückspause schweigend nebeneinander sitzen, vertieft in die „Kommunikation“ via WhatsApp, so keimen bei mir Zweifel, ob sich hier weltoffenes Interesse oder nicht doch provinzielle Selbstbestätigungssuche Raum schaffen.
Es lohnt ein Blick auf die biblisch begründete Anthropologie, also die beschreibende Lehre vom Menschsein. In biblischer Deutung ist Menschsein an konkrete Orte gebunden, auf eine erkennbare Gemeinschaft bezogen und durch Begrenztheit gekennzeichnet. Wo Menschen glaubten, ohne diese Strukturen leben zu können, misslang dieser Versuch. Altes und Neues Testament lassen sich mit diesem erkenntnisleitenden Interesse lesen und bieten eindrucksvolle Beispiele – freilich ohne Smartphone-Erwähnung.
Zum biblischen Bild gelingenden Menschseins gehören unverzichtbar auch die individuelle Mobilität, Kreativität und die Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Nur müssen diese Fähigkeiten stets erhalten und gepflegt werden.
Kommunikation erweist sich in diesem Zusammenhang als Lebens-Mittel. Durch sie werden wir in die Lage versetzt, verantwortlich und menschengerecht (Artur Rich) zu gestalten. Am Anfang steht die Einsicht, dass niemand allein heute noch alles Wissenswerte wissen kann; nicht einmal das, was für sein Leben von Bedeutung ist. Wir sind eben auch hinsichtlich unserer kognitiven Fähigkeiten ein Mängelwesen. Wir brauchen das menschliche Gegenüber – kreativ, kritisch, konstruktiv. Und weil unser Wissen irgendwie doch stets „Stückwerk“ ist und bleibt (siehe 1. Korinther 13), erfordert das auf das Ganze ausgerichtete Wissenwollen ein Zusammenwirken aller und zugleich die Möglichkeit der Teilhabe aller an dem Suchprozess nach dem Besten für unsere Zeit. Die Informations- und Kommunikationstechnologien können, wenn wir einmal das Beste annehmen wollen, auch dazu beitragen, dass es eben zu diesem alle einbeziehenden Austausch und der entsprechenden wechselseitigen Förderung kommt.
Ob es zu dem idealen freien Austausch und dem kreativen Zusammenwirken möglichst vieler über das Medium des Internets kommen wird, scheint nicht ausgemacht. Denn die elektronische Kommunikation ist eine „kupierte“, eine um wichtige Anteile beschnittene Kommunikation. Menschen kommunizieren über einen Filter, müssen sich in vielfacher Hinsicht den Systembedingungen des Internets anpassen. Wir beobachten in diesem Zusammenhang, dass diese Form medial vermittelter Kommunikation es auch in einer vermeintlich komfortablen Zukunft leicht machen wird, sich der Konfrontation mit anderen Rationalitäten, mit anderen Formen des Denkens und anderen Visionen der Zukunft zu entziehen. Wenn ich nicht mehr will, schalte ich eben einfach ab.
Biblisch begründete Anthropologie aber verweist den Menschen in den „echten Dialog“, den Martin Buber einmal beschrieb: „Echter Dialog heißt, dass jeder der Teilnehmer den oder die anderen in ihrem Dasein und Sosein wirklich meint und sich ihnen in der Intention zuwendet, dass lebendige Gegenseitig sich zwischen ihm und ihnen stifte“ (Martin Buber, Werke, Bad 1, Heidelberg 1962, S. 192).
Die heute verfügbaren internetbasierten Technologien, die mit dem Anspruch auftreten, nicht allein effizienzsteigernd, sondern menschengerecht und das Leben fördernd zu wirken, müssen hierzu einen deutlicher erkennbaren Beitrag liefern.
Gegenwärtig scheint es, dass diese technischen Möglichkeiten eher den selbstbezogenen, zuweilen gar vernetzungs-süchtigen Solipsisten fördern.
Die Anteile des Erlebens, die heute im Prozess der Technologieentwicklung ausgegrenzt und abgespalten zu werden scheinen, kehren zu einem späteren Zeitpunkt mit ungeahnter Energie zurück und wenden sich dann wohl auch gegen die Technik. Joachim Scharfenberg nannte solche Phänomene treffend „Fremdprophetie“. Die Sehnsucht nach dem „echten Dialog“ widersteht er Computer-Insider-Differenzierung der Zeitgenossen in user und looser, in solche also, die aktiv mitmachen und in solche, die dies nicht können (oder wollen).
Über Fortschritt muss man miteinander reden. Ihn rückwärtsgewandt und romantisierend zu verteufeln, wäre naiv. Ihn rational und verantwortlich zu gestalten, ist hingegen sachgemäß und unverzichtbar – Fehlermöglichkeiten inclusive! Walter Allgaier schrieb vor 20 Jahren: „Gott rechtfertigt gerade den unperfekten Menschen, was freilich kein Freibrief für jegliche Torheit erteilt, aber die Freiheit, das Dasein zu meistern, auch auf die Gefahr hin, dabei zu versagen oder schuldig zu werden.
Es wäre doch wirklich lebensdienlich, wenn sich diese Einsicht durchsetzen würde.