Adorno und die Hähnchen

Heute habe ich wieder etwas über mich gelernt.

Schon häufiger habe ich mich gefragt, warum manche Nachrichten – zunächst ohne erkennbaren Grund – meine durch jahrelanges Training abgestumpfte und verhärtete Oberfläche der Aufmerksamkeit durchdringen und mich deutlich berühren und beschäftigen.

Als ich heute morgen die Nachricht las, das Bundesverwaltungsgericht erlaube weiterhin das Töten von 45 Millionen männlichen Küken pro Jahr, hätte ich allzu gern an einen tiefenpsychologischen Ansatz geglaubt. Dass mich das Schreddern von nutzlosen männlichen Tieren ähnlich wie die Kastration ohne Betäubung beim Ferkel in meiner Existenz als Mann bedroht.

Bei weiterem Nachdenken und dem Gespräch mit einem guten und schlauen Freund ist mir aber plötzlich ein Muster aufgefallen: wir haben uns angewöhnt, das extrem aufwendige, technologisch faszinierende herumdoktern an Symptomen in den Mittelpunkt unserer Tätigkeit als Manager, Politiker, Arzt und Mensch zu stellen.

Nicht etwa, weil wir für die Analyse der Ursachen zu wenig Zeit, Expertise oder Datenmaterial hätten. Nein, ganz offenkundig einzig und allein deswegen, weil ein aktionistisches Handeln in Tateinheit mit Statussicherung, Placebo-Gerede und Wichtigtuerei, soviel angenehmer ist, als wirklich etwas grundsätzlich zu ändern.

Natürlich ist es einleuchtend und sofort nachvollziehbar, dass man der deutschen Geflügelzucht nicht von heute auf morgen die Existenzgrundlage entziehen kann (Arbeitsplätze!). Und wer bei Verstand könnte denn wollen, dass die Geflügelzüchter aus NRW einige Kilometer nach Westen fahren und das Kükengeschreddere auf holländischem Boden weiterführen? Ist doch plausibel, wenn das Bundesverwaltungsgericht erklärt, man könne von den Unternehmen keine sofortige Umstellung der bisherigen Praxis verlangen.

Dann fällt einem allerdings auf, dass die Zucht von 45 Millionen weibliche Legehennen, die möglichst viele Eier aus ihren dürren Körpern pressen, bei gleichzeitiger Aufzucht der gleichen Rasse* im Stall nebenan mit möglichst fetten Brüsten zur Fleischgewinnung, vielleicht im Grundsatz falsch ist? Und das das Verbot der Tötung von Küken bereits 2013 ausgesprochen wurde (nach jahrelangen Diskussionen) und wir beim Blick auf den Kalender feststellen, dass 2019 schon beinahe Bergfest feiert.

Das mit der sofortigen Umstellung ging bei anderen Themen irgendwie zügiger.

Warum also stellen wir nicht grundsätzlich die industrielle Produktion von tierischen Lebensmitteln in Frage? Eine Industrie, die umfassend erforscht, beschrieben und kritisiert ist?

Was wäre also, wenn wir nicht all die Argumente herunterbeten, die am Ende des falschen Vorgehens zu jeder Menge Übel führen? Antibiotika-Resistenzen, überdüngte Felder und geschredderte Küken sind das Ergebnis eines falschen Ansatzes. Und der wird nicht dadurch besser, dass es vermutlich genialen Forschern gelingen wird, neue Antibiotika zu entwickeln, die Stadtwerke verbesserte Filteranlagen für das Trinkwasser beschaffen und man Eier mit Lasertechnik schön ordentlich öffnet, um pränatal das Geschlecht des zu schlüpfenden Tieres zu erkennen. Um anschließend eben das Ei und nicht den gelben Federknäuel zu Futtermittel verarbeitet.

Wenn man also nicht nur beim Huhn vorne mit dem Denken anfinge? Dann bräuchte man nicht hinten aufwändig die Steuerungs-Software der Motoren manipulieren.

Wenn man den Menschen von den Zumutungen einer Energiewende ehrlich berichtete? Und dann einen neuen Gesellschaftsvertrag für das Errichten der notwendigen Infrastruktur demokratisch legitimiert einforderte und durchsetzte?

Nicht den Bürgern die Strohhalme verbieten würde, sondern allen europäischen Unternehmen Müllexporte? Statt den Blutdrucksenkern bei Übergewicht lieber das Fahrrad nähme?

Dann würden wir in einer aufgeklärten, freien demokratischen Gesellschaft leben. Mit dem Bewusstsein, als Europäer hochgradig privilegiert zu sein. Und dieses Geschenk verantwortungsvoll zu bewahren und weiter zu entwickeln.

Da wir dies aber nicht tun, treffen einen manche Nachrichten unvorbereitet mitten ins Herz und ins Hirn.

Weil es eben kein richtiges Leben im falschen gibt. Das wissen seit heute auch die Hähnchen.

*mich interessiert aktuell nicht der feine Unterschied zwischen Cobb500 und Ross308, ob ein Hybridhuhn noch ein Huhn ist oder ob das biologisch die „gleiche“ Rasse ist und ob die Masthuhnzucht mehr oder weniger umfangreich ist als die Legehennenzucht. Wer mir die Fakten dennoch schicken möchte: Danke.

Alfons Baur

Senior Sales Manager (Projektgeschäft & Key Account Managment bei Deutsche Post AG

4 Jahre

Wir sind schon etwas verrückt. Symptome sind leider schneller und bequemer zu bekämpfen. Eine Tablette gegen Bluthochdruck geht eben schneller als denselben mit Bewegung zu eliminieren. VG

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