Ampelkoalition – Chance für Politik der Weisheit?
Nun steht sie da: Die Ampel-Koalition. SPD, FDP und Grüne versprechen, ein weitestmögliches Spektrum politisch-kultureller Überzeugungen abzubilden. Nun wird es in der praktischen Regierungsarbeit mehr denn je darauf ankommen, einerseits mit Weitsicht nachhaltig und weise zu handeln sowie andererseits in einer VUCA-Welt mit sich aneinanderreihenden und sich überlagernden Krisen angemessen agil zu handeln. Dabei gilt es, demokratische Prinzipien zu wahren und den Kontakt zur ausgesprochen diversen und pluralen Bevölkerung zu verbessern.
Mit Weisheit durch die Krise steuern
Im Mittelalter kostete die Pestepidemie einem Großteil der europäischen Bevölkerung das Leben, aber kein König verlor seinen Thron, da niemand es als Aufgabe des Regenten angesehen hatte, etwas gegen die Pestepidemie zu tun. Heute ist das anders: Wir erwarten von der Politik, dass sie wirtschaftliche Prosperität, Gerechtigkeit, Gesundheitsschutz und Freizügigkeit gleichermaßen und ohne zusätzliche Bürokratie und Regelwerke gewährleistet. Doch nicht nur für uns Bürger ist das Leben mit steigendem Komfort auch komplexer und unübersichtlicher geworden, sondern mindestens ebenso für Berufspolitiker. Bei allem Verständnis für die Forderungen vieler Mitbürger bezüglich Lockdown und Impfpflicht: Der Haupthebel zur Bearbeitung von Krisen liegt weder in mehr Härte, noch in einer Anbiederung an hochgradig gereizte Teile der Bevölkerung, sondern in einem weisen vorurteilsfreiem Aufeinander-Zugehen und einem Sich-Zeit-Nehmen für wegweisende Entscheidungen.
Der Schlüssel für eine erfolgreiche Kommunikation ist Anschlussfähigkeit, eine jedoch die ohne Feindbild-Erzählungen auskommt, die Identität schafft, ohne Gräben auszuheben, Erzählungen, die Stärke transportieren, die schön sind, in die Zukunft weisen. Sehr häufig sind schöne Erzählungen nicht stark genug. Starke Erzählungen sind leider oft hässlich, also von Hass geprägt oder von Abwertung und unterschwelliger Verachtung. Um diese beiden Qualitäten – Stärke und Schönheit – im erforderlichen Maße zu integrieren, benötigt es Weisheit. Weisheit wiederum benötigt die beiden anderen Qualitäten, um anschlussfähig zu sein, um nicht in abgehobenen Allgemeinplätzen stecken zu bleiben, wie es Festtagsreden und Neujahrsansprachen oft zu eigen ist. Bei Martin Luther King konnte man eine starke und weise Protesthaltung ohne Rachsucht erleben. Eine solche Kommunikation bringt Menschen dazu, sich zu bewegen statt in Verzweiflung zu versinken. Aufgekommener Zorn muss gereinigt und kanalisiert werden, denn für den langen Atem braucht man Hoffnung und Glauben anstelle von Vergeltung.
Voraussetzung für Weisheit schaffen
Die Besessenheit vom eigenen Status ist etwas anderes als die Orientierung an Menschenwürde und Selbstachtung. Würde kennt keinen Status, kennt keine Hierarchie. Würde kann durch Demütigung nicht geschwächt oder gestärkt werden. Im Gegensatz zum Ruf ist sie für alle gleich und geht nie verloren. Es genügt, den anderen als menschlich anzuerkennen, als ein Wesen, das zum Guten, zur Veränderung fähig ist. So können wir unser Verhaltensschema von Angst, Schuldzuweisung und Heimzahlung durchbrechen und konstruktive Netzwerke knüpfen.
Elitenkritiker, die sich selbst für spirituell gebildet halten, kommen gern zu dem Schluss, unsere Politiker seien seelisch verflucht, von Dämonen besessen oder Marionetten böser Mächte. Ich komme zu dem Ergebnis, dass die meisten unserer führenden Politiker seelisch gar nicht so verkehrt liegen, tief verankerte Werte haben und mit sehr ehrenwerten Absichten in der Politik unterwegs sind. Jedoch ist der moderne Politikbetrieb geprägt von tagespolitischen Kontroversen und Auseinandersetzungen, Konkurrenzkampf und medialer Performance. Ausreichend Schlaf, Ruhe, Reizabschottung und Ausgleich durch politikfremde Tätigkeiten kommen so gut wie gar nicht mehr vor. Wen wundert es da noch, wenn Körper und Geist nicht wirklich leistungsfähig sind?
Es wird darauf ankommen, genau zu wissen, wann Entscheidungen aus rationalen Ableitungen zu treffen sind und wann intuitiv. Im Umgang mit anwesenden Menschen und kommunikativen Situationen ist es unser Bauchgefühl. Bei komplexen Zusammenhängen, die mehrere Ebenen betreffen, muss zuvor geistige Ordnung geschaffen werden. Dann sind die Dinge eben nicht so, wie es der erste Anschein suggeriert. Angela Merkel hat dies verstanden. Viele andere noch nicht. Im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten versagt unsere Intuition. Politische Führungskräfte sollten sich jenem Denken widersetzen, das zu einfach, zu plausibel und damit fast immer falsch ist. Wenn sich Anführer nicht die Zeit nehmen, sich einen klaren Gesamteindruck zu verschaffen, wer dann?
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33 aus 48 – und du hast es in der Tasche!
Der US-amerikanische Schriftsteller Robert Greene veröffentlichte vor 23 Jahren 48 geradezu neomachiavellische Gesetze, für Politiker die rücksichtslos die Macht an sich reißen und an der Macht bleiben wollen. Mit Hilfe dieser Regeln, die auf Stärke setzen, aber weder schön noch in unserem Sinne weise sind, können Skrupel überwunden werden. Schritte zum Machtergreifen, -sichern und -erhalten werden zur Methode. Dass mit der auf diese Weise ergriffenen Macht etwas Gutes getan wird, ist nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich. Um die Basis für eine starke, aber auch weise Politik zu legen, muss die Mehrzahl der 48 Gesetze geradezu um 180 Grad, andere nur um 90 Grad gedreht und einige wenige bleiben identisch. Der Rest erledigt sich von selbst, sodass die Nummern jener Gesetzte aus der folgenden Aufzählung ersatzlos entfallen.
Vision von einer krisenimmunen deutschen Gesellschaft
Die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse hinter den augenscheinlichen Maximalforderungen der Lobbygruppen werden identifiziert und konsensorientiert moderiert. Alle größeren Parteien sowie Bürgerbewegungen und Interessenvertretungen verstehen sich als Strömungen mit unterschiedlichen Hauptausrichtungen, die dem Gedanken der Konfrontation und des Wettbewerbs losgelassen haben und dem Streben nach Übereinkünften den Vorrang geben. Die politische Führung hat die spirituelle Dimension sowohl ihrer Verantwortung als auch die der Menschen unseres Landes erkannt, die den verschiedenen Perspektiven, Sekundärbedürfnissen und Glaubensvorstellungen zugrunde liegt und bezieht diese im Sinne einer transparenten Entscheidungskette ein. Es überwiegt das Gefühl, ernst genommen zu werden. Menschen erfahren, dass sie Bedürfnisse äußern und verhandeln dürfen. Es setzt sich ein wertschätzendes Verständnis durch, dass nicht jeder auf Knopfdruck in der Lage ist, mit schnellen Veränderungen emotional reif umzugehen. Vielmehr geht es um eine Relativierung der eigenen Meinung durch die geistige Leistung, nacheinander verschiedene Standpunkte einzunehmen. Erfahrungsräume mit niedrigen Zugangsschwellen, die es prinzipiell jedem Bürger spielend ermöglichen, die Volatilitäten, Unsicherheiten, die Komplexität und die Ambiguitäten unserer Gesellschaft anzunehmen und mehr als nur zu ertragen, sondern sogar freudig und mit wachsendem Selbstbewusstsein als Teil seiner selbst zu erschießen.
Ohne Transzendenzversprechen wird es schwer
Eine Gesellschaft braucht ein in weiten Teilen der Gesellschaft akzeptiertes verbindendes Transzendenzversprechen: Nach der Reichseinigung 1871 ging das endlich staatlich manifestierte Nationalbewusstsein mit wirtschaftlicher Dynamik einher. Der Weimarer Republik fehlte ein solches Transzendenzversprechen: Demokratie und Republikanismus waren für die Mehrheit nicht ausreichend anschlussfähig, um die Demütigungen durch verlorenen Krieg und Wirtschaftskrisen zu kompensieren. Das Hitler-Regime punktete mit dem Transzendenzversprechen, Teil einer heiligen Mission in Gestalt des großgermanischen Imperiums sein zu dürfen. Die westdeutsche Bundesrepublik wiederum durfte ein mit deutschen Tugenden tatkräftig unterstützer Teil des wirtschaftlich und politisch erfolgreichen Westen sein, während in der DDR zumindest zeitweilig das Versprechen griff, zu den vom Propheten Marx „wissenschaftlich“ extrapolierten Siegern der Geschichte zu gehören und den Westen sehr bald ohne einzuholen überholt zu haben. Nach 1989 konnte das neoliberale Transzendenzversprechen West- und Ostdeutschland zwar nie ganz einigen, aber immerhin einem noch immer großen – wenn auch abnehmenden – Teil der Bevölkerung Sinn im Leben und einen Platz in der Gesellschaft bieten. Das ist nun unwiederbringlich vorbei: Finanz-, Flüchtlings- und Corona-Krise, die Gefahr eines Klimakollaps und die zunehmende Gereiztheit bis hin zur Feindseligkeit prägen die gesellschaftliche Temperatur heute.
Wird es der neuen Regierung gelingen, sich nicht nur leidlich im Krisenmanagement zu bewähren, sondern ein gesellschaftlich anschlussfähiges Transzendenzversprechen zu formen?
Ich kann es ihr nur wünschen!