Auch analoger Unterricht ist nur ein Modell der Wirklichkeit
Foto: Jana Reiche, Sprache in Klasse 1

Auch analoger Unterricht ist nur ein Modell der Wirklichkeit

Seit März 2020 bin ich auf verschiedenen Social-Media-Kanälen unterwegs und werde in meiner Rolle als Schulleiterin oft befragt, warum die Digitalisierung von Lernprozessen an Schulen so schleppend verläuft. Auf Social Media – Kanälen herumspazierend könnte man den Eindruck gewinnen, Schulen entwickeln sich seit März 2020 zurück und nicht nach vorn. Das stimmt aber nicht. Eine gute Schule setzt auf eine gute Schulkultur und die entsteht auf verschiedenen Ebenen, braucht auch physischen Kontakt innerhalb des Schulteams, den Kindern und mit den Familien. Moderne Schulen wissen, dass eine Einführung am PC in den ersten Schuljahren für die Entfaltung der Kreativität und eine gesunde Fehlerkultur gar nicht zwingend notwendig ist, trotzdem gibt es digitale Technik an diesen Schulen. Und nicht nur, weil sinnvollerweise zum Beispiel die Lernstandsanalyse ab Klasse 1 digital durchgeführt wird (übrigens noch mit Maus ;, das haben sich die Macher so ausgedacht). Digitale Auswertungen standardisierter Leistungserfassungen sind häufig den handgeschriebene Kreuzchen überlegen und dienen der Diagnostik. Ohne die kann es keine qualifizierte Unterstützung für das weitere individuelles Lernen geben. Aber es ist doch so, Kinder in der Grundschulzeit lernen sehr schnell, sie brauchen diese Kompetenz des schnellen Tippens nicht in Klasse 1, andere Kompetenzen sind vorrangiger. Anteile davon erwerben sie möglicherweise auch durch digitale Zugänge. Keine moderne Schule hat Digitalisierung abgelehnt, die anderen schon mal gar nicht, da fehlten eher die Optionen. Digitale Chancen nutzen, wenn sie den analogen überlegen sind und neue Zugänge entdecken, das ist einer der Grundsätze moderner Schulen. Sie nutzen digitale Technik als Schüler- Arbeitsmittel, wenn Schüler*innen lesen können, also Informationen brauchen, aber auch kreative Prozesse oder Vernetzungen auf diesem Weg interessanter werden. Das alles immer unter der Voraussetzung, dass Fehlerkultur und kooperatives Lernen in den Schüler*innengruppen schon in Ansätzen entfaltet sind oder dadurch gestützt werden.

Ich spekuliere mal, warum das nun nicht so geschwind gelingt, wie manch einer sich wünscht. Die Schulen in Deutschland haben häufig eine Schulleitung, die organisatorische Prozesse gestaltet, aber keine Entscheidungshoheit hat. Das heißt, dass Teambildungsprozesse und notwendige Entscheidungsfreiheiten, um etwas auszuprobieren und einen Fehler zu riskieren, gar nicht so viel Raum hat, wie notwendig. Der Föderalismus fördert auch nicht gerade eine Austauschkultur zwischen den Schulen. Dazu kommt, dass der Medienpakt eine Kenntnis von Begrifflichkeit abverlangt, die weit über das Alltagswissen gebildeter Menschen hinaus geht. An den meisten Schulen sind nun mal keine ITler. Profis kurzfristig einstellen, ist für eine Schulleiter*in einer staatlichen Schule in Deutschland nicht möglich. Natürlich bleibt Umsetzung und Einlassung eine Haltungsfrage, aber eben von allen. Und es bleibt das 1X1 guter Zusammenarbeit, Verständnis zu entwickeln und realistisch zu bleiben. Hört auf damit, Politik oder den Berufsstand der Lehrer*innen schuldig zu sprechen! Ich nehme bei allen Beteiligten ein großes Verantwortungsbewusstsein wahr. Dieser Prozess wird dauern und er wird besser gelingen, wenn er von einer breiten Bevölkerungsschicht, auch Eltern, getragen wird. Bringt euch ein, das geht doch fast immer und ist beglückender, als über die Zustände zu schimpfen!

Bei aller Digitalisierungseuphorie, die ich durchaus auch empfinde- nach wie vor bleibt Schule in der Verantwortung, alle Szenarien mitzudenken und sie muss langfristig auch, vielleicht sogar dringender, eine Überlebensfähigkeit im analogen Raum absichern. Selbst wenn wir den Antrag für den Digitalpakt gestellt und cloudbasierte Lösungen eingerichtet haben, sich das gesamte Kollegium auf hybriden Unterricht vorbereitet, so bin ich doch sehr froh, dass wir zum Schulstart 2020 vor einer Woche die komplette Schülerschaft im Präsenzunterricht hatten. So konnten wir uns vor Ort über Sternenhaufen, Parallelität, die verliebten Zahlen und den Wasserkreislauf unterhalten. Und auch da reden wir nur über Modelle, das Lernen im Außenraum ist ja das echte Lernen. Im Gegensatz zu vielen Erwachsenen sind unsere Schüler*innen sehr verantwortungsvoll im Maskentragen und Händewaschen, sie arrangieren sich mit einer gesellschaftlichen Notwendigkeit zum Schutze aller- eben auch ihres favorisierten Unterrichtsmodell: der Begegnung im echten Raum und dem gemeinsamen Lernen, digital oder mit dem Buntstift.

Dr. Sarah Nike Makeschin

Building Holisitic Innovation Ecosystems - „Vulnerability is the birthplace of innovation, creativity and change." - Brené Brown

4 Jahre

Danke für diesen Beitrag! Wir müssen bei diesem Thema endlich von der Schwarz/Weiß Mentalität weg. Nur mit einem ganzheitlichen Blick kann digitale Transformation im Bildungsbereich (und auch in anderen Bereichen) gelingen.

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