Büroetagen, Plädoyer für eine differenzierte Retro-Entwicklung…
Ich bin kein Marketing-Experte, aber ein Thema beschäftigt mich seit ein paar Monaten, und ich möchte heute meine möglicherweise überflüssigen bzw. nicht-fundierten Sorgen hinsichtlich der Zukunft einer Büroimmobilie mit Ihnen teilen.
Es fing, grob geschätzt, vor ca. fünf Jahren mit dem mittlerweile sehr verbreiteten Fachbegriff "Co-Working"an (was wir heutzutage nicht alles gemeinsam unternehmen und erleben wollen, ohne uns dessen bewusst zu sein…), einer etwas verwirrenden Erfindung der IT-Branche, die sich in der Zwischenzeit in allen Segmenten der Immobilienindustrie viral verbreitet hat. Diese Erfindung beruht auf der einfachen Feststellung, dass der Mitarbeiter angeblich mehr leistet, wenn man ihm eine inszenierte Nachahmung seines Wohnumfeldes zur Verfügung stellt. Diese räumliche Umgestaltung seines Arbeitsumfelds ist selbstverständlich eng verflochten mit einem angeblich emphatischen Diskurs: "Du bist Teil einer Gemeinschaft (einige „Interessensgemeinschaften“ haben es bereits sehr erfolgreich umgesetzt), einer Kultur, einer Familie, eines gemeinsamen Unterfangens etc. Deshalb wird für die Ausübung deiner Tätigkeit und den Abbau deiner Kommunikationshemmung sowie zur Förderung deiner persönlichen und beruflichen Entfaltung ein neues Umfeld für dich geschaffen." Dazu werden zusätzliche Werte als Leitlinien suggeriert: Flexibilität, Offenheit, Neugier, Toleranz, Generosität und - nicht zu vergessen - die vielgerühmte Empathie, Geduld… Ein neues Korsett für die erfolgreiche Erbringung von Leistungen ist geboren.
Die herkömmliche schlichte Büroimmobilie, oft als "Kaserne" degradiert, ist nun obsolet und archaisch, überholtes architektonisches Requisit aus der post-industriellen Ära. Das geschlossene Büro mit Tür, Schloss und Namensschild versehen, ist zur Keimzelle für den beruflichen und seelischen Untergang verkommen. Wie viele Generationen von selbstsüchtigen, latent-depressiven Egomanen haben wir seit Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg damit gezüchtet. In der Tat entsetzlich, wie viele unbekannte und auf sich gestellte Pater-Noster-, Rohrpost- und Analogtelefon-Geschädigte noch in unseren Betrieben vor sich hinvegetieren. Für diese Generation rückt glücklicherweise die Rente immer näher, die alten Denkmuster werden radikal aussortiert und entwertet, endlich Platz für die strahlende Zukunft der PropTech-Industrie.
Wie unsere Vorfahren unter diesen Bedingungen Europa nach dem zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut haben, ist mir schleierhaft. Was hätten sie mit allen Werkzeugen, die unsere moderne Welt zu bieten hat, geschafft. Überflüssig zu fragen, was wäre, wenn Mozart den Synthesizer von Karlheinz Stockhausen zum Geburtstag geschenkt bekommen hätte (… man hätte sich nie mit der kleinen Nachtmusik vergnügen können).
Nun zurück zu unserem neuen Zuhause, dem Arbeitsplatz. Wenn der verschließbare individuelle Kerker allmählich aus der Planung der modernen Büroflächen verschwindet, dies zur Förderung der kollektiven Kreativität, wird die "Privatisierung" des Arbeitsplatzes grundsätzlich in Frage gestellt. Wo sollen in Zukunft der mikroskopische Kaktus in seinem verzinkten Mini-Eimer, das Foto des putzigen Neugeborenen, der bunte Osterhase aus ungenießbarer Schokolade, der Quetschball im Fußball-Design, die Werbegeschenke von der letzten Fachmesse Platz finden. Diese seelischen Krückstöcke zur individuellen Appropriation des Arbeitsplatzes sind durch übergeordnete und kollektive Annehmlichkeiten ersetzt und überflüssig gemacht. Dies setzt voraus, dass das geschlossene Büro zur Ausübung der anvertrauten Tätigkeit in der Form nicht mehr vorhanden ist. Die Luftmasse ab 1,5 m über Fußbodenoberkante wird im Open Space kollektiv in Anspruch genommen und geatmet. Mobile Screens zur Schalldämmung und minimalen optischen Abgrenzung des Arbeitsplatzes sind in bestimmten Arealen gezielt eingesetzt, insbesondere wo der permanente Austausch und die unvermeidliche Promiskuität mit den anderen Kollegen sich als eher kontraproduktiv erweist. Die Verallgemeinerung der kollektiven Appropriation des Arbeitsumfeldes könnte man mit der unaufhörlichen und unkontrollierbaren Entblößung des Individuums in den sozialen Netzwerken vergleichen.
Um diese räumlichen Veränderungen und den Verlust der Privatsphäre auszugleichen, werden kollektiv genutzte Annehmlichkeiten und neue Orientierungspunkte architektonisch und technisch in Szene gesetzt. Zugangskontrolle und individuell steuerbare Haustechnik in Open Data, frei buchbare Arbeitsplätze bzw. Isolationszellen oder kleine Konferenzräume, ein fremdbetriebenes Café mit Fingerfood, ein Ruheraum, ein Fitnessbereich, Stehpulte und freistehende Theken, Sofas und Sessel in einer begrünten Insel… Die Liste der neuen Funktionalitäten ist endlos und gepaart mit der systematischen Anwendung bestimmter Materialien, Oberflächen und Farben, die bisher das Gestaltungsregister des Wohnraums versinnbildlicht haben. Stimmt die Gleichung der Pros und Cons für den Mitarbeiter, werden die zur Verfügung gestellten Möglichkeiten, die erhöhte Qualität und die deklinierbare Organisation der Arbeitsumgebung als Mehrwert wahrgenommen und der Verlust der gewohnten Intimität ausgeglichen? Wenn ja, mit welchen Konsequenzen? Es ist wahrscheinlich zu früh, Bilanz werden wir erst in den nächsten fünf bis zehn Jahren ziehen können.
Co-working, Co-living, Co-eating, Co-relaxing, Co-traveling, Co-thinking, Co-breathing… Wie viel Gemeinsamkeit und Herdentrieb können wir vertragen, ohne unser "Immunsystem" auf Dauer überzustrapazieren. Ermöglichen die Nachbildung der Wohnzimmeratmosphäre und die neuerrungene Bewegungsfreiheit innerhalb des Unternehmenstraktes eine bessere Verwaltung des eigenen Energiehaushalts? Sind die Aufgaben leichter zu bewältigen? Sind es zweifelsohne Garanten für besseren Leistungen und stärkere Unternehmensbindung, wenn überall in einer nahen Zukunft diese vorzufinden sind? Die IT-Welt war in dem Zusammenhang erneut Vorreiter, das Segment musste zeitgemäße und branchenspezifische Modalitäten für die Erbringung der neuen Leistungen und für die Unterbringung der Mitarbeiter erfinden. Ob diese für alle Industriesegmente Gültigkeit finden, bleibt offen. Auch wenn man die neuen Funktionalitäten für bestimmte Endnutzer nach Maß umsetzt, gelten diese Spezifikationen lediglich für die erste Flächenbelegung. Die maßgeblichen Vorgaben zur nachhaltigen Drittverwendung der gewerblichen Immobilie müssen erneut definiert werden. Diese Problematik betrifft in erster Linie den Projektentwickler. Nach Analyse der objektiven Bedarfslage sollte man sich ggf. gründlich überlegen, wie weit die Konzeption der Büroimmobilie die gegenwärtige Modeerscheinung berücksichtigt und reflektiert. Designtrends sind mittlerweile genauso kurzlebig, wie die Tendenzen der Mode. Bevor man sich in einer bestimmten Stilrichtung verrennt und nach ein paar Jahren X-tausend Quadratmeter neugestalten muss, um dem Zeitgeist des Raumdesigns hinterher zu rennen, sollte man sich vielleicht mit der tatsächlichen Zweckdienlichkeit auseinandersetzen, ganz zu schweigen von der Herstellungsqualität der modernen, erschwinglichen Fabrikate und Möbelstücke, die unsere neuen Büros schmücken sollten.
Erhöhte Mobilität sollte man mit dem angewandten Co-Working-Konzept besser bedienen können, gleichzeitig sollte die Ratio Nutzfläche / Arbeitsplatz "optimiert" werden. Die nüchternen Bestandsaufnahmen sagen momentan etwas anderes.
Die Botschaft, die man mit dieser heimeligen Interpretation des Arbeitsumfelds transportiert, und die daraus resultierenden Leitlinien zur Neugestaltung der produktiven Koexistenz in einem Unternehmen können ggf. zu einer verzerrten Wahrnehmung der individuellen Prioritäten und damit einer fragwürdigen Umstellung der Lebenshygiene führen. Wie kann man auch dauerhaft mit dem immer mehr diversifizierten Angebot an "Gimmicks" und kollektiven Annehmlichkeiten Schritt halten und möglicherweise unerfüllte Erwartungen vermeiden? Die Treue, die Loyalität und eine harmonische persönliche Entfaltung der Mitarbeiter kann man nicht durch bloße Raumgestaltung, Design und Begrünung sicherstellen. Wie immer liegt die Wahrheit wahrscheinlich "dazwischen", mit einer gesunden Mischung an visionärer Innovation und gesundem Konservatismus. Eine radikale Häutung des arbeitenden Menschen kann man nicht erwarten, die Evolutionstheorie liefert zahlreiche Beispiele gescheiterter Anpassungen. In der Ära der Nachhaltigkeit und des Umweltbewusstseins sollte man vielleicht nicht überproportionale Mittel zur ausschließlichen Bedienung neuer und häufig kurzlebiger kulturell-sozialer normativer Organisationsrichtlinien und Praktiken vergeuden…
Sonst plädiere ich nach wie vor für die gnadenlose Verbannung des Ficus Benjamina aus den Büroetagen, es gibt mittlerweile deutlich schönere Alternativen, um den wohltuenden Kontakt zur Natur auch am Arbeitsplatz zu ermöglichen ;-)
Geschäftsführer bei Dawonia
5 JahreOlivier, sehr klasse!