Berufliche Übergänge

Berufliche Übergänge

Gestern ist im Tages-Anzeiger ein ungemein wichtiger Artikel erschienen. Darin wird vom Politiker Pierre Dalcher berichtet, der beruflich voll auf sein politisches Amt setzte. Weil er sich da reingeben und sich darauf konzentrieren wollte. Und dann wurde er abgewählt. Wurde arbeitslos. Meldete sich beim RAV an und durchlief eine lange "wollen, aber nicht dürfen"-Schleife. Schliesslich fand er dann wieder einen Job, der ihn bis heute befriedigt und ausfüllt.

Dieser Artikel hat mich bewegt, weil er in mir grad mehrere Saiten angezupft hat.

Wenn Lehrmittel ihrer Zeit voraus sind

Zum einen musste ich an ein Lehrmittelprojekt denken, das schon einige Jahre zurückliegt. Im Umfeld des Berufswahltagebuchs von Erwin Egloff und Daniel Jungo wollten wir beim Schulverlag damals eine neue "Kolumbus"-Reihe lancieren. Ich arbeitete da mit einem tollen Team zusammen, das die Vision hatte, zu verschiedenen Berufsübergängen entsprechende Hilfsmittel zu erstellen. In der Berufswahl wird fast ausschliesslich auf den Übergang von der Schulzeit in die Berufslehre, bzw. weitere Ausbildung fokussiert. Dabei existieren im Leben noch Dutzende anderer Übergänge: ein simpler Jobwechsel, eine Um-Orientierung in der Lebensmitte, die Pensionierung, ein Unfall, ein Umzug mit neuem Arbeitsort... Die Vision wurde damals nicht verstanden. Die Reihe kam nie zustande. Es blieb bei einer Ausgabe. Ich glaube, mein Team war damals der Zeit voraus. Heute hätte dieses Lehrmittel eine andere Berechtigung und eine breitere Unterstützung.

(M)ein beruflicher Bruch ist kein Versagen

Dann gingen mir auch ein paar persönliche Erfahrungen durch den Kopf. Auch ich hatte mal einen beruflichen "Bruch". Zweimal hintereinander gab ich einen Job innerhalb eines halben Jahres auf. Ich fühlte mich schuldig, ich fühlte mich als Versager. Ich war enttäuscht über mich selbst, dass ich das nicht gepackt hatte. Ich hatte Existenzangst: Was, wenn ich keinen Job mehr finde? Was, wenn diese Brüche in meinem CV mir in Zukunft bei der Jobsuche in die Quere kommen?

Heute bin ich klüger. Es war nicht (nur) meine Schuld, Ich war neugierig und habe etwas ausprobiert. Bin gescheitert. Habe dabei gelernt und diese Learning helfen mir heute in meinem Job immer wieder. Es war kein Versagen, sondern ein Gewinn.

Wollen, aber nicht dürfen

Eines dieser Learning ist auch meine damalige Erfahrung mit dem RAV. Wie gesagt, ich hatte Existenzangst. Die bekommt man in der teuren Schweiz recht schnell. Also schleunigst beim RAV anmelden, dem Auffangnetz. Es ist toll, dass es das RAV und alle damit verbundenen Leistungen gibt. Auch heute würde ich diese Hilfe irgendwann dankbar annehmen.

Heute würde ich aber länger zuwarten mit der Anmeldung. Ich hätte mehr Geduld, selbst etwas Neues zu suchen. Hätte mehr Vertrauen in meine Erfahrungen, mein Können und in mein Netzwerk. Würde mich mehr mit mir, meinen Chancen, meinen Visionen beschäftigen. Überlegen, was ich WILL.

Die Erfahrung beim RAV war eine andere: Hier wurde mir gesagt, was ich MUSS.

Kurse

Ich musste an Weiterbildungsveranstaltungen teilnehmen und fand mich mehrmals in Kursen, in denen 20-30 traurige und hoffnungslose Leute mit Wissen befüllt wurden, das zumindest ich schon hatte. Dabei hatten wir keinen Kontakt zum Berufsalltag. Wir blieben innerhalb unserer RAV-Gemeinschaft in unseren Seminarräumen gefangen. Wie quälend ist das denn?

Formulare

Ich musste viele Formulare ausfüllen, musste Gesetzestexte verstehen, Weisungen lesen, Merkblätter durcharbeiten. Oft in einer Beamten-Sprache verfasst, die ich - mit Mittelschule und Studium - nicht verstand. Ich fragte mich immer wieder: wie machen das Leute mit Migrationshintergrund? Wie entwürdigend, wenn du im RAV-Prozess schon nur an der sprachlichen Barriere scheiterst!

Bewerbungen

Ich musste Bewerbungen schreiben. Das verstehe ich und das ist gut. Das RAV hilft dir dabei, indem es dir Orte vorschlägt, bei denen du dich bewerben kannst.

Das RAV hilft dir dann aber nicht bei lustlosen Bewerbungsgesprächen, die du zwar absolvieren musst (darfst), bei denen du aber von Beginn weg weisst: ich will das gar nicht.

Absagen

Das RAV hilft dir nicht bei den Dutzenden von Absagen, die du zwangsläufig bekommst. Denn auch die Recruiter merken sofort, dass du eigentlich gar nicht zu diesem Job passt. Die vielen Absagen führen dazu, dass du noch mehr Bewerbungen schreiben musst, du dich noch mehr als Versager fühlst. Ein Teufelskreis.

Das Schlimmste dabei: Du willst arbeiten. Du darfst nicht. Du hörst immer wieder das Argument der Überqualifikation. Ja, aber im Moment macht mir das doch gar nichts aus. Ich will einfach arbeiten. Will was machen, was bewegen. Auch wenn des Pakete im Hochregal-Lager sind.

Lähmung

Alles in allem war der RAV-Prozess mehr lähmend als unterstützend. Pierre Dalcher formuliert es im Artikel so: «Eine gewisse Entmündigung muss sein, das verstehe ich schon, aber dieser ständige Druck, obwohl ich das ja aus eigenen Stücken wollte, das war zermürbend».

Berufliche Übergänge

Ich hätte in diesem einen "beruflichen Übergang" gerne eine andere Unterstützung bekommen als die, die mir das RAV geben konnte. Ich hätte gerne Anleitungen und Hilfestellungen gehabt, die mir meine Chancen aufgezeigt hätten. Die mich zu Ideen und Visionen geführt hätten. Mit denen ich auch meine Schwächen erkannt hätte. Mit denen ich Learnings aus den "Brüchen" hätte ziehen können. Die mich auf eine nächste Stufe gehoben hätten.

Insofern verneige ich mich vor meinen damaligen Autoren. Res Marty hätte mit seinem Team mit "Kolumbus" genau diese Unterlagen bereitstellen wollen. Schade, dass das nicht geklappt hat. Aber vielleicht setzt sich ja die Erkenntnis durch, dass der berufliche Weg viele Schlaufen und Wendungen beinhaltet. Viele Übergänge. Wir alle durchlaufen sie.

Wir alle sollten sie als Chancen betrachten, nicht als Versagen.

Reinhard Schmid

Gründer und VR bei S&B Institut für Berufs- und Lebensgestaltung AG

5 Jahre

Dem Ansatz der „ Beruflichen Übergänge“ wird das S&B Concept seit vielen Jahren gerecht. Siehe www.laufbahnportfolio.ch. Seit kurzem auch in französischer Sprache erhältlich.

Dr. Angela Dettling

Member of the board, deputy director

5 Jahre

Toll geschrieben! - Ich kann mich an meine RAV-Erfahrung erinnern. Da wussten sie mit mir als Promovierter gar nichts anzufangen. Wenigstens zwangen sie mich nicht zu Bewerbungen. Als ich dann den 50%-Job im Kader des Museums erhielt, war meine Betreuerin zuerst gar nicht begeistert, da sie meinte, das Gehalt sei ja wohl sicher viel zu klein um damit zu überleben....

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