Brief an meine Oma
Liebe Oma,
du bist damals als junge Frau vor den Russen geflohen. Das hast du mir erzählt, als ich ungefähr 17 Jahre alt war. Ich habe bei dir in der Küche gesessen. Du saßt auf deinem Lieblingsplatz in der Küche, der dir erst nach Opas Tod ganz alleine und offiziell gehörte. Am Kopf des Tisches, den Rücken an die Heizung gelehnt. Stift und Zettel hattest du immer griffbereit. Du hast viel gelesen und aufgeschrieben. Ich erinnere mich an den kleinen weißen Zipfel eines Taschentuchs, der immer aus deinem linken Ärmel schaute.
Bis heute bin ich ganz gut im "Vergessen" von schlimmen Dingen. Aber die Geschichte, wie dich ein russischer Soldat mit in den Wald genommen hat und dich erschießen wollte, die habe ich nie vergessen. Warum er dich damals hat leben lassen, das konntest oder wolltest du mir nicht sagen. Ich weiß, dass dir und deiner Familie noch viele andere schlimmer Dinge widerfahren sind. Aber deine Zuversicht hast du nie verloren.
Es tut mir leid, dass ich damals nicht verstanden habe, was du mir sagen wolltest. Aber weißt du, ich habe vor zwei Tagen deine Bleistiftnotizen in dem Zitatebuch gefunden, das du dir 1998 von mir ausgeliehen hast. Es hat über 1.000 Seiten. Und du hast sie anscheinend alle sehr sorgfältig gelesen und mir Notizen hinterlassen, die mich heute – 26 Jahre später wieder erreichen und an unsere Gespräche erinnern.
Du warst eine intelligente, humorvolle und gläubige Frau. Dass du emanzipiert warst, dass lassen einige deiner Kommentare erkennen.
Es tut mir leid, dass du damals nicht die Chance hattest, wie ich sie heute habe. Dich mitzuteilen, deine Gedanken öffentlich zu äußern und deine Geschichte zu erzählen.
Mich hätte interessiert, was du zum Tod und zur Beerdigung von Nawalny gesagt hättest. Und weißt du was? Du hast mir deine Antwort in dem Buch hinterlassen zum Zitat von Clausewitz aus seinem Buch, „Vom Kriege VIII, 9“
Empfohlen von LinkedIn
"Ein solches Land kann nur bezwungen werden durch eigene Schwäche und durch die Wirkungen des inneren Zwiespalts.“
Dein Kommentar: „Das war damals so – heute ist´s sehr sichtbar“.
Danke Oma – ich bin sicher, du hättest dir von mir LinkedIn geduldig erklären lassen. Vielleicht hätte ich dir sogar ein eigenes Profil angelegt oder dich interviewt.
Du warst immer an mir und meinem Leben interessiert. Ich habe oft bei dir übernachtet und über deine Zähne im Glas im Bad gelacht.
Du hast meine Facharbeit über die Favelas in Brasilien korrigiert.
Wenn ich dich besucht habe, hast du mir immer kalte Pellkartoffeln zurückgelegt. Du hast mich oft singend mit dem Lied „Das schöne Mädchen, von Seite 1“ begrüßt.
Ich hätte dir gerne gesagt, dass heute alles besser ist und dass sich die Geschichte von damals nicht wiederholen kann. Oder dass das, was dir widerfahren ist, heute nicht mehr so passieren würde, weil wir Menschen heute weltweit vernetzt sind durch neue Technologien und wir gemeinsam sofort dafür sorgen würden, dass böse Menschen nie wieder an die Macht kommen.
Aber soll ich dir was sagen? Zwar haben wir jetzt die neuen Technologien und sind alle miteinander vernetzt, aber es hat sich trotzdem nichts verändert. Was anders ist? Dass wir heute live zuschauen können, wie die falschen Menschen an die Macht kommen. Wir sehen Bilder, von denen du mir damals nur erzählt hast. Ja, die Technik hat sich verändert. Die Menschen nicht.
Liebe Oma, dein schönes Mädchen von Seite 1, möchte dir heute die Stimme geben, die du damals schon hättest bekommen sollen.
Deine Eva
#bethechange 🚀 | Stadtbaumeisterin, Architektin, Leader | nachhaltige Stadtentwicklung & Transformation im Public Sector | Bikeenthusiast | Momof2 ❤️| #gerneperdu
10 MonateSehr bewegend, liebe Eva!
Verwaltungsfachwirtin, virtuelle Assistenz + Secondhand- & Upcycling-Unternehmerin
10 MonateGanz wundervoll 🤍
Die Wertebotschafterin 🟡 Mit Kultur und Kommunikation Menschen und Unternehmen verbinden
10 MonateDas ist schön, Eva! ❤️
Weltverbessernde @cleverly
10 MonateSehr berührend. Wie gut, dass unsere Omas uns einen Teil ihrer Stimmen mitgegeben haben. ❤️