Buchkritik – Min Jin Lee: Ein einfaches Leben
VON MICHAELA MOTTINGER
Migranten als Menschen zweiter Klasse
Sie werden Zainichi genannt, das heißt „Ausländer mit Wohnsitz in Japan“ und ist als Bezeichnung gleichsam der Nährboden für rassistische Ressentiments, für Charakterzuschreibungen von hinterhältig bis faul, für Diskriminierungen aller Art. Die ersten kamen 1910 ins Land, als das Kaiserreich die Nachbarshalbinsel als Provinz Chōsen annektierte, doch als im Zuge des Zweiten Weltkriegs Arbeitskräfte gebraucht wurden, kam es auch zu gewaltsamen Umsiedelungen. Sie wurden gezwungen japanische Namen anzunehmen, in bestimmte Berufe gezwungen, gezwungen sich regelmäßig via Meldekarten behördlich registrieren zu lassen – immer in der Angst, abgeschoben zu werden. Selbst in dritter, vierter Generation in Japan lebend, bleiben sie als Migranten Menschen zweiter Klasse.
In ihrem Roman „Ein einfaches Leben“ schildert Autorin Min Jin Lee, New Yorkerin mit Wurzeln in Seoul, die Lage der koreanischen Minderheit in Japan anhand des Schicksals einer Familie. Seit 30 Jahren verfolgt sie das Thema, Erzählungen hat sie darüber schon verfasst, nun endlich ein Buch.
Und es ist erstaunlich, wie speziell und zugleich universell diese Geschichte, die in einem fernen Fischerdorf um die Jahrhundertwende beginnt und 1989 in Yokohama endet, ist. Lee berichtet von einer restriktiven Gesellschaft und vom täglichen Überlebenskampf deren, denen man die Zugehörigkeit verweigert, sie erklärt die Stellung der Frau und, was es mit der Männerehre auf sich hat. Sie zeigt nach der Teilung Koreas in Nord und Süd, wie Koreaner, die zurückkehren müssen, in Seoul als „japanische Bastarde“ gelten, und in Pjöngjang spurlos verschwinden. Keine Heimat, nirgendwo. Das gilt auch hier für Flüchtlinge, und nimmt die nicht aus, denen das diskreditierende Wort Wirtschafts- vorneweggestellt wird.
„Ein einfaches Leben“ beginnt mit der Fischerstochter Sunja, die vom Großhändler Hansu, einem verheirateten Mann, schwanger wird. Da quartiert sich Pastor Isak Baek im Logierhaus der Mutter ein, er ist auf dem Weg zu seiner neuen Gemeinde in Osaka, erkrankt schwer, gesundet, und heiratet aus Dankbarkeit und Nächstenliebe Sunja. Die ihm bereitwillig nach Japan folgt, kann sie so doch Schmach und Schande abwenden. In Osaka findet das Paar Unterschlupf bei Iaks Bruder Yoseb und dessen Frau Kyunghee im koranischen Ghetto Ikaino. Bald fühlt man als Leser intensiv mit den vieren, Lee schreibt klar und schnörkellos und doch voller Empathie für ihre Figuren. Und während sie deren Leben ausbreitet, flicht sie die Historie ein. Japan als Kolonialmacht, als Kriegstreiber gegen China, als Verbündeter des Dritten Reichs, als Opfer zweier Atombomben …
An Sunjas Seite geht es durch die Jahrzehnte. Noa wird geboren, dann Isaks leiblicher Sohn Mozasu. Doch die Christen sind bei der japanischen Regierung unbeliebt, und als Isaks Küster dem Kaiser die wöchentliche Ehrerbietungszeremonie, die ihn als Gott würdigt, verweigert, wird auch Isak ins Gefängnis geworfen – und stirbt. Yoseb bleibt nach einem Feuer in der Fabrik, in der er arbeitet, schwerstbehindert. Bleiben die beiden Frauen, die versuchen, die Kinder mit dem Verkauf von hausgemachtem Kimchi zu ernähren, aber oft reicht das Geld nicht einmal für etwas Tee. Die Söhne entwickeln sich entgegen ihren Vätern. Noa wird in Tokio auf die Universität gehen, Mozasu, dem niemand einen Job geben will, weil er Koreaner ist, steigt ins Pachinko-Geschäft ein – für die Japaner ein mehr als zwielichtiges Gewerbe. Doch nicht Mozasu in seiner Spielhölle, sondern Hansu, der die ganze Zeit über im Hintergrund für die Familie Baek die Fäden zieht, entpuppt sich als Yakuza.
Die Spuren dieser Zeit prägen die Zainichi bis heute. Und so erzählt Lee auch von koreanischen Schulbuben, die sich von Dächern stürzen, weil sie von Mitschülern als schmutzig und stinkend beschimpft werden. Von Notlügen, in die man sich verstrickt. Von Vätern, die sich lieber erschießen, als dass die Frau, die Kinder, der Arbeitgeber erfahren, dass sie sich als Japaner nur ausgegeben haben, tatsächlich aber Koreaner sind. Von Menschen, die, weil ihnen jeder Kontakt zur Umwelt fehlt, Japanisch nur schlecht sprechen, und schon gar nicht schreiben können. Von einer scheinheiligen Welt aus Schuld und Strafe. Dazu webt Lee ein Netz aus faszinierenden Nebenfiguren, die teils nur als Streiflichter auftauchen und schon wieder weg sind.
Wie Phoebe, ebenfalls Koreanerin, aber in Seattle geboren, und nicht imstande die gesellschaftliche Kluft in Japan zu begreifen. Phoebe ist Solomons Freundin, Solomon Mozazus Sohn. Der erste, der’s schafft, der Banker – und dann doch wieder nur hereingelegt wird. Doch der erste, der die Demütigung nicht erduldet, sondern sich dagegen auflehnt. Ein Hoffnungsschimmer. Geschätzte 600.000 bis 700.000 koreanischstämmige Menschen leben derzeit in Japan. Sie sind Künstler wie die Schriftstellerin Miri Yū, Politiker wie Shinkun Haku, Sportler wie der Fußballspieler Ri Han-jae oder Wirtschaftsbosse wie Masayoshi Son, Gründer der SoftBank und laut Forbes-Magazine der reichste Mann Japans ...
Die ganze Rezension: http://www.mottingers-meinung.at/?p=31143
5. 1. 2019