Darf ich Sie bitte berühren
Ich hatte gestern nach längerer Zeit ein Telefonat mit einer lieben Freundin, die in München zu Hause ist. Wir erzählten uns gegenseitig, wie für uns Silvester war und sich die darauffolgenden Wochen für uns gestaltet haben. Wobei wir sehr in die Tiefe gegangen sind: Wie war das so für dich? Was hast du dabei gefühlt? Wie kommst du mit der Situation derzeit zurecht? Was denkst du, wie es weitergeht?
Kommt Ihnen das bekannt vor? Haben auch Sie in letzter Zeit ein oder mehrere solcher Gespräche geführt? Ist das nicht sonderbar – wunderbar? Da legt diese Krise und das zurück geworfen sein auf uns selbst etwas frei, das wir doch alle in unserer schnellen, digitalen von Algorithmen bestimmten Welt verloren geglaubt haben: unsere innersten Gefühle und die Empathie für jene Menschen, die uns am Herzen liegen.
Ein positiver Einfluss der Corona-Krise?
Vor ein paar Tagen habe ich hier die Frage aufgeworfen, welche positiven Einflüsse die Corona-Krise auf unsere Gesellschaft haben kann. Welche Chancen sich dadurch für uns persönlich und unser Miteinander ergeben können. Gefühle zu zeigen und wieder zeigen zu dürfen, könnte eine dieser positiven Entwicklungen sein.
Vermissen Sie jetzt auch diese kleinen Berührungen des täglichen Lebens. Oft sind es ja nur „beinahe“ körperliche Berührungen, wie jene an der Kassa im Supermarkt. Überall und auch hier ist die Distanz eine größere geworden – so soll es im Moment sein. Das ist vernünftig und wichtig, um die Ausbreitung des Virus hinauszuzögern und das Gesundheitssystem selbst am Leben zu erhalten. Doch diese körperliche Distanz schmerzt, denn sie ist für uns Menschen als soziale Wesen unerlässlich - ohne ihr verkümmern, vereinsamen, ja, wir können langfristig sogar daran sterben.
Achtsamkeit? Auf einmal geht's wie von selbst
Sicher sterben wir nicht daran, wenn diese ein paar Wochen dauert, denn wir Menschen sind ja sehr anpassungsfähig. So finden wir Wege uns unsere Berührung in einer anderen Art und Weise zu holen. Wir telefonieren, skypen, zoomen, FaceTimen, WhatsAppen, usw. und dies tun wir nicht nur oberflächlich, sondern flechten hier nun gerne auch unsere Gefühle mit ins Gespräch ein. Achtsamkeit für uns selbst und für unser Gegenüber! So beginnen nun speziell berufliche Gespräche nicht einfach in der üblichen Art und Weise gleich auf das relevante Thema fokussiert - erst wird gefragt: Wie geht es dir/Ihnen heute? Wie kommst du denn damit zurecht, dass nun deine ganze Familie zu Hause ist? Kannst du jetzt in Ruhe mit mir reden? ...
Wir lernen unsere Gesprächspartner von einer anderen, privaten Seite kennen – selbst jene, mit denen wir bisher im Beruf nur oberflächlich gesprochen haben. Berührung, durch berührt sein im Herzen. Und diese kann oft viel tiefer gehen, als eine Hand auf der Schulter. Wobei wir wohl alle uns darauf freuen, wenn wir nach dieser Zeit des vorösterlichen „Begegnungs-Fastens“ (welch Zufall!) einander wiedersehen und treffen werden.
Was wird sich für uns verändern?
Wie werden wir in Zukunft unseren Kolleginnen und Kollegen im Job begegnen? Wie werden wir die Arbeit jener einschätzen, die nun unsere Systeme am Laufen halten? Wie werden wir jene unentgeltliche Arbeit in der Familie bewerten, die nun sichtbar wird und gemanagt werden soll, selbst von jenen, die diese sonst delegieren können?
So viele Chancen, es in Zukunft anders als bisher zu machen – für jeden Einzelnen von uns und für unsere Gesellschaft. Die Chance, endlich wieder einmal Gefühle zu zeigen!
Danke, wenn ich Sie mit diesem Artikel berühren durfte :)