„DAS ENDE DER ILLUSIONEN“ – DIE SPÄTMODERNE GESELLSCHAFT
Der Soziologe Andreas Reckwitz hat mit seinem Buch „Gesellschaft der Singularitäten“ eine umfassende Theorie zur Struktur und Befindlichkeit der spätmodernen westlichen Gesellschaft geliefert. Seine Bestandsaufnahme beschreibt den sozialen Wandel, der sich in den letzten Jahren vollzogen hat.
Die zentrale These ist der Wandel weg von der Logik des Allgemeinen, die sich an eindeutigen, für alle gültigen Standards und Normen orientiert, hin zur Logik des Singulären: Heute geht es um Einzigartigkeit und das Außergewöhnliche. Der wahrnehmbare Unterschied steht im Vordergrund: „Das Besondere wird besonders gemacht, um so bewertet zu werden“.
Im vergangenen Jahr legte Andreas Reckwitz mit „Das Ende der Illusionen“ eine weiterführende Betrachtung verschiedener gesellschaftlicher Dimensionen vor. Dabei beschreibt er zwei zentrale Phänomene nochmals eingehender:
- die Entwicklung einer neuen Klassengesellschaft und
- die nicht immer heilvolle Dynamik der Selbstverwirklichung für das spätmoderne Subjekt
Von der Mittelstands-Gesellschaft zur Drei-Klassen-Gesellschaft
Das Bild des gesellschaftlichen Nebeneinanders verschiedener Lebensstile ist nach Reckwitz nicht (mehr) gültig. Er spricht von der Entwicklung neuer Klassen. Das gesellschaftliche Konsensmodell der 50er-/60er-Jahre war eine Ausnahmesituation. Der soziale Wandel brachte verschiedene Gruppen und Milieus hervor, die sich nun gegenüberstehen. Es gibt eine deutliche Ungleichheit. Einzelne Milieus existieren wie Parallelgesellschaften. Der Bedeutungszuwachs der Dienstleistungsgesellschaft führte zum Aufstieg von Wissensökonomie und gleichzeitig zur Entstehung einfacher Dienstleistungen. Damit gingen einerseits Bildungsexpansion und Akademisierung (Aufstieg der neuen Mittelklasse) und andererseits die Entstehung einer neuen, prekären Unterklasse einher.
Die Klassen, die Reckwitz beschreibt, sind:
- neue Mittelklasse
- alte Mittelklasse
- neue Unterklasse oder prekäre Klasse.
Die neue Unterklasse ist ein Phänomen der spätmodernen Gesellschaft. Die klassische Industriegesellschaft kannte eigentlich kaum eine solche Unterklasse. 90 Prozent der Gesellschaft war Mittelschicht. Die neue Unterklasse, Menschen im Prekariat, ist ein Phänomen der letzten Jahrzehnte.
Das hängt stark mit dem ökonomischen Wandel – weg von der alten Industriegesellschaft – zusammen. Die Kehrseite der heutigen Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft sind verschiedene soziale Abstiegsprozesse. Die Verlierer sind diejenigen, die früher in der Industrie beschäftigt waren und die heute vielleicht nur noch einfache Dienstleistungen ausführen, im Niedriglohnsektor arbeiten und einen niedrigen Sozialstatus haben.
Es hat sich eine Unterklasse herausgebildet, die von den Selbstentfaltungswerten der neuen Mittelklasse sehr weit entfernt ist, und die anfällig für populistische Ideologien zu sein scheint.
Insgesamt gibt es ein Nebeneinander der Aufstiegs- und Abstiegsprozesse. Auch für die alte Mittelklasse wird das Szenario bedrohlich. Sie läuft Gefahr, den Anschluss an die gesellschaftlichen Entwicklungen und damit ihren bisherigen Status und ihr Ansehen zu verlieren. Sie läuft Gefahr „abgehängt“ zu werden. Das führt ebenfalls zu Verunsicherung und großer Unzufriedenheit. Im Schatten dieser Entwicklungen lassen sich Protestbewegungen wie die Gelbwesten in Frankreich, aber auch Trump- und Brexit-Wähler, als „Protest“ gegen eigene Entwertungserwartungen und -erfahrungen verstehen. Partikularisierungs- und Teilungstendenzen verstärken sich.
Das, was der Mittelstand in der industriellen Moderne erreichen wollte, nämlich Lebensstandard und Wohlstand, ist erreicht, aber reicht nicht mehr bzw. man riskiert, die Anerkennung und den Anschluss an gesellschaftliche Bedeutung zu verlieren.
In der neuen Mittelklasse finden sich die Menschen, die aus dem Aufstieg der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft Nutzen ziehen. Sie sind gut ausgebildet, sie sind gebildet (Der Akademisierungsgrad stieg in den westlichen Gesellschaften von 5 auf 25 %). Sie leben in städtischen Agglomerationen, sind international, kosmopolitisch orientiert. Sie sind mobil. Sie leben in eigenen Milieus und zeichnen sich durch andere Lebensvorstellungen als die frühere (alte) Mittelschicht aus, die sesshaft und regional orientiert ist.
Reckwitz verwendet einen kulturellen Klassenbegriff („Lebensmilieu“), weniger einen politischen. Es geht um einen bestimmten Lebensstil, eine spezifische Art und Weise zu leben. Diese Lebensmilieus sind sehr wohl mit unterschiedlicher Macht und Einflussnahme verbunden, dennoch geht es ihm mehr um kulturelle Unterschiede.
Das spätmoderne Subjekt
1. Das Profil zählt
Auf besonderes Interesse stößt die Analyse der spätmodernen Situation des Individuums:
Das spätmoderne Subjekt ist nicht nur innenorientiert. Es will nach außen zeigen, dass man Erlebnisse hat. Man zeigt auf Instagram, Facebook, usw., aber auch im Alltag, dass man Erlebnisse – singuläre Erlebnisse – hat. Man performt die Selbstverwirklichung; man will anderen zeigen, wie interessant und erlebnisreich das eigene Leben ist. Reckwitz spricht von der performativen Selbstverwirklichung.
2. Das Leben als Singularität
„Man will das eigene Leben zu einem Erlebnis-Projekt machen. Man möchte möglichst viel Erlebnisse in das eigene Leben einbauen und zwar nicht nur in der Freizeit, sondern auch im Beruf, in der Familie usw.“ Das spätmoderne Leben will nicht nur einen bestimmten Lebensstandard haben, sondern es geht um Lebensqualität und das umfängliche Ausschöpfen der Fülle aller Möglichkeiten.
3. Erschöpfende Selbstverwirklichung
Die Erwartungen an ein erfülltes Leben sind sehr hoch. Und gleichzeitig soll das im Umfeld als „gelungenes Leben“ wahrgenommen und bewertet werden können. Es muss auf dem Aufmerksamkeitsmarkt sichtbar gemacht werden. Diese Form der Lebensführung, die auf die Formel der „Maximierung aller Lebensmöglichkeiten“ ausgerichtet ist, ist fragil. Man kann leicht enttäuscht werden oder sich enttäuschen lassen, wenn diese hohen Erwartungen (an sich selbst) nicht erfüllt werden (können). Es wird tragisch erlebt, aus der Fülle, die uns das Leben bietet, etwas zu verpassen.
Der spätmoderne Mensch zieht in mehrere, teilweise gegensätzliche Richtungen:
- sichere Karriere, die Status, Einflussmöglichkeiten und einen entsprechenden finanziellen Rahmen gewährleisten, aber auch
- sich ausprobieren und selbst-entfalten. „Das Subjekt zeichnet sich durch Originalität, Unvergleichbarkeit, Selbstentfaltung und Selbstpotenzierung aus.“
Einigen gelingt das. Erfolgreiche Künstler, Architekten, Designer, aber auch Start-up-Gründer usw. vermitteln den Eindruck, beides geschafft zu haben: Selbstentfaltung und -verwirklichung sowie hohen sozialen Status und öffentliche Anerkennung (durch berufliche Karriere).
Gleichzeitig bedeutet dieses Programm „harte Arbeit“. Es wird zur Norm und Erwartung, dass nur das Besondere zählt – wer will schon eines „langweiligen Lebens“ bezichtigt werden?!
Es reicht nicht mehr einen Beruf zu haben und damit erfolgreich zu sein. Da muss noch „mehr Leben hinein“. „Das Rennen wird anspruchsvoller“ und damit enttäuschungsanfälliger und kräfteraubender.
Umgang mit Ambivalenz
Auch wenn die dargestellten Phänomene und Dynamiken kritisch klingen mögen, Reckwitz gehört nicht in die Kategorie der „Untergangspropheten“. Er beschreibt, was sich in den letzten Jahren strukturell und kulturell ausgeprägt hat. Er beschreibt die Widersprüchlichkeiten unserer spätmodernen Welt.
Er liefert einige Hinweise und Ansatzpunkte für den Umgang mit diesem „anspruchsvolleren Rennen“. Hilfreich sind die Qualitäten der Auseinandersetzung: Konflikte formulieren, aushalten und versuchen, sie zu lösen. Die Widersprüchlichkeit annehmen und mit ihr nicht gegen sie arbeiten. „Die widersprüchlichen Strukturen der Gegenwartsgesellschaft sperren sich sowohl gegen allzu schlichte Fortschrittsnarrative als auch gegen alarmistische Verfallsdiagnosen. Einfache Lösungen sind nicht zu erwarten, im Gegenteil: Wer Ambivalenzen aushalten und produktiv mit ihnen umgehen kann, ist in der Spätmoderne klar im Vorteil.“
Quellen
Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten – Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017
Reckwitz, Andreas: Das Ende der Illusionen – Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019
Unter den richtigen Bedingungen erzielen alle Menschen ständig außergewöhnliche Leistungen.
4 JahreHervorgender Überblick. Danke Gerhard!