Das können wir nicht verstehen
„Ich wähle Donald Trump.“ – „Ich wähle Kamala Harris.“ Ein engagiert geführter Disput in vielen amerikanischen Wohnzimmern. Bei manchen Familien nimmt er Formen von Glaubenskriegen an, Anhänger des einen oder der anderen zu sein ist mehr als eine Meinung, es ist die falsche Meinung.
Dabei ist es aus deutscher Sicht für viele Bürger sehr einfach. Es war schon nicht verständlich, wie Donald Trump im Jahr 2016 Präsident der Vereinigten Staaten werden konnte. Wie die Amerikaner nach den vier Jahren seiner damaligen Präsidentschaft nun ernsthaft eine erneute Wahl in Betracht ziehen.
Aber an diesem prominenten Beispiel sehen wir die Notwendigkeit, auch Randbedingungen in unsere Urteile einzubeziehen. In deutscher Mentalität gibt es eine Parteienvielfalt, die ein durchschnittlicher Wähler nur mit Hilfe eines Wahl-o-mat sortiert bekommt. Der eine Meinungsvielfalt gewohnt ist, die in allen Facetten und Koalitionskonstellationen ausgehandelt wird. Da wirkt es befremdlich, wenn die Wahl auf zwei Kandidaten reduziert ist, die oft im Laufe ihrer Karriere Schauspieler oder Entertainer waren.
Selbst wenn ein Teil Deutscher die amerikanische Denkweise, deren Kultur und Verhalten nicht durchdringt: Wir müssen mit der Entscheidung und dem Wahlergebnis dieser Bevölkerung leben. Als Bürger in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gehört es unbedingt dazu, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren, auch wenn man anderer Meinung ist oder sie schlichtweg nicht nachvollziehen kann.
Was für uns im politischen Umfeld mehr oder weniger selbstverständlich ist, kommt uns in Alltag und Berufsleben auf einmal merkwürdig vor. Da wird die Entscheidung von Experten in Frage gestellt, vehement auf der eigenen doch viel besser recherchierten Sicht bestanden. Doch selbst wenn die eigene Darstellung gut begründet und im persönlichen Kontext korrekt ist, kann sie in anderem Kontext unvollständig oder sogar verkehrt sein.
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„Wie kann man auch nur auf den Gedanken kommen, Donald Trump zu wählen“, mag mancher Deutscher denken. Aber Tatsache ist, dass Donald Trump und Kamala Harris derzeit Kopf an Kopf liegen, Donald Trump also rund 80 Millionen Wähler hinter sich versammelt. Es wäre absurd, so viele Menschen alle als uninformiert oder gar blöde abzustempeln.
Gerade beim Gespräch mit intelligenten Zeitgenossen erlebe ich immer wieder, dass sie ihre durchdachte und wohlbegründete Sicht einer Situation als das Maß der Dinge betrachten. Eine abweichende Meinung wird sehr deutlich mit dem Hinweis auf mangelnde Information, fehlendes Verständnis oder sogar fehlenden Intellekt zurückgewiesen.
Das mag im Einzelfall sogar stimmen, oft aber auch nicht. Einem angemessenen Urteil können wir uns nämlich erst nähern, wenn wir die Gegenseite möglichst gut verstanden haben. Bei den Wahlen in den USA ist es deren Mentalität, bei Geschäftspartnern geht es um deren komplettes Umfeld, ihre Stakeholder, Rolle, Ausbildung und so weiter.
Nur eine Reihe von uns bewusst oder unbewusst ausgewählten Argumente zu betrachten, ist erheblich zu punktuell und führt geradezu zwangsläufig zu einer Fehleinschätzung. Oder anders ausgedrückt ist in vielen Fällen nicht die Meinung verkehrt, sondern unser Verständnis von ihr. Und manchmal müssen wir akzeptieren, dass wir sie einfach nicht verstehen (können).
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