Der Kollateralschaden der Demokratie
Das Jahr 1776 schuf die Grundvoraussetzungen für demokratische Freiheiten wie für den heutigen Wohlstand – und für den Klimawandel. Ohne kohlebetriebene Industrierevolution wäre die amerikanische Revolution den Weg aller Volksaufstände des Mittelalters gegangen – zur Restauration der alten Ordnung mit neuen Autokraten. Erst die Industrialisierung des amerikanischen Nordens erlaubte es, im Sezessionskrieg 1860/65 die Institution der Sklaverei definitiv abzuschaffen.
Vor einer Woche hat der Schweizer Souverän das CO2-Gesetz abgelehnt. In diesen Wochen präsentiert die Afroamerikanerin Kara Walker im Basler Kunstmuseum ihr aufrüttelndes Œuvre über die Gräuel der Sklaverei. Am kommenden 4. Juli gedenken wir des 245sten Jahrestags der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776, des Grunddokuments der liberal-demokratischen Staatsphilosophie. Und im gleichen Jahr 1776 lieferte James Watt die erste funktionsfähige Dampfmaschine der Welt aus.
Diese vier Fakten haben etwas gemeinsam – sie alle haben direkt oder indirekt mit dem Kohlendioxid zu tun. Mit dem schlechten Gewissen unserer technisch dominierten Gesellschaft. Mit dem Narrativ vom natürlichen Leben in unberührter Natur, ohne den Konsumzwang einer ausufernden kapitalistischen Marktwirtschaft.
Die Idealisierung der Natur ist uralt. Die abendländische jüdisch-christliche Kultur der Erbsünde durch Naschen am Paradiesapfel gibt nur den älteren mesopotamischen Topos der Bestrafung der «Sünde des Wissens» (Th. Ziolkowski) im Gilgamesch-Epos wieder. Dem Menschen war es schon immer unbehaglich, sich mit dem als göttlich empfundenen Wissen zu messen. Unser ambivalentes Verhältnis zu Wissenschaft und Technologie wurzelt hier. Und Jean-Jacques Rousseaus «Mensch im Einklang mit der jungfräulichen Natur», ein Zustand, der durch die Zivilisierung, das Privateigentum und die Technik zerstört wurde, dieses Narrativ befruchtete schliesslich sowohl die moderne Ökologie als auch die marxistische Lehre von der Verderblichkeit der privaten Verfügung über die Produktionsmittel.
Rousseaus romantisches Bild entspricht leider nicht der Wirklichkeit. Die fehlende Mechanisierung war kein Hindernis für das Entstehen vortechnischer Hochkulturen, durchwegs autoritärer Systeme von unvorstellbarer Gewalt, mesopotamischer Despotien etwa oder ägyptischer Pharaonenreiche. Es war erst das Aufkommen der auf der Nutzung nichtbiotischer Energie beruhenden Technik, die Innovation kohlebefeuerter Dampfmaschinen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die den Menschen von den inhumanen vortechnischen Zuständen befreite. Die verfemte Kohle war die eigentliche Treibkraft der Humanität, nur wusste man damals noch nichts von den klimatischen Folgen des CO2.
Das Verfügen über grosse Mengen billiger nichtbiotischer Energie ist für die liberale Demokratie nämlich konstitutiv. Der Wunsch nach Freiheit und Gleichheit ist alt, und der Traum von einer Gesellschaft der Gleichen wurde seit Urzeiten geträumt. Solange dem Menschen aber nur die Kraft seiner Muskeln und der Muskeln seiner Mitmenschen und domestizierter Tiere zur Verfügung stand, war an das Überwinden des Rechts des Stärkeren nicht zu denken. Die streng hierarchische Gesellschaftsordnung der Gewalt war die Regel. Tiere allein auszubeuten genügte nicht, man war stets auf die kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Gehirns angewiesen – auch der am wenigsten gebildete Mensch ist immer noch intelligenter und kommunikativer als ein domestiziertes Tier. Man konnte zwar Ochsen zum Ziehen schwerer Steinquader auf den Rampen des Pyramidenbaus nutzen, die Tiere mussten aber von Menschen geführt werden, wenn die Steine an den richtigen Ort gelangen sollten. Keine Gesellschaft der Antike kam ohne versklavte Arbeitskräfte aus und Kriege und Raubzüge wurden nicht nur wegen der in Aussicht stehenden territorialen Gewinne geführt, sondern auch wegen der erhofften Erbeutung des ‹Humankapitals› an Sklaven.
Diese Situation bestand noch lange nach dem Aufkommen des Humanismus in der Renaissance, der das Sklavendasein zwar als unmenschlich anprangerte, doch zunächst wenig zu ändern vermochte – man hatte schlicht und einfach keine Alternative zur Ausbeutung der menschlichen Kraft. Die amerikanischen Gründerväter hatten mit dem Demokratieexperiment das Glück, dass der Humanismus der Renaissance nicht nur die Sklavenarbeit verächtlich machte, sondern praktisch zeitgleich auch zur Aufklärung führte, zur Befreiung von den starren Dogmen der römischen Kirche und zum Aufschwung der Naturwissenschaften und ihrer Nutzung in der Technik. Es ist beinahe symbolisch, dass das Jahr 1776 zwei epochale Ereignisse erlebte, die Unabhängigkeitserklärung der entstehenden USA, der ersten Demokratie der Welt, und die Auslieferung der weltweit ersten funktionsfähigen Dampfmaschine durch James Watt.
Das gleiche Jahr schuf die Grundvoraussetzungen für unsere demokratische Freiheit wie für unseren heutigen materiellen Wohlstand – und ungewollt auch für die Klimaproblematik. Denn als Brennstoff für die neue Kraftquelle, die Dampfmaschine, wurde die energiereiche Kohle benötigt, die zu damaliger Zeit bereits in den Hochöfen der Stahlindustrie Anwendung fand. Das fossile Zeitalter begann zeitgleich mit der Demokratie, die Klimaerwärmung ist ein Kollateralschaden unserer geliebten Gesellschaftsordnung. Ein schwerwiegender, zugegeben. Trotzdem, als Demokraten sollten wir wegen des eingeschlagenen Technologiepfades kein schlechtes Gewissen haben. Greta Thunbergs mit wutverzerrter Miene dem UN-Forum in New York 2019 entgegengeschleuderte Anklage «Wie konntet Ihr es wagen, meine Träume und meine Kindheit zu stehlen?» zielt ins Leere. Unsere Ahnen hatten schlicht und einfach keine andere Wahl, wenn sie der vorindustriellen Misere entgehen wollten.
Die demokratische und die industrielle Revolution begannen zum Glück zu gleicher Zeit. Die Erschliessung der mechanischen Kraft erlaubte das Versprechen der Humanität, die Menschenwürde und das Ende der Sklavenarbeit, nach und nach einzulösen. Ohne das unerwartete Geschenk der ersten grosstechnisch nutzbaren nichtbiogenen Energiequelle hätte das demokratische Experiment kaum überdauert. Man kann die nicht allzu gewagte These aufstellen, dass ohne die anbrechende Maschinenzeit die amerikanische Revolution den Weg aller Volksaufstände des Mittelalters gegangen wäre – nämlich zur Restauration der alten monarchischen Ordnung mit neuen Autokraten, und nicht zur Demokratie. Erst die Industrialisierung des amerikanischen Nordens erlaubte es, im Sezessionskrieg der 1860er Jahre die Macht der auf Sklavenwirtschaft beruhenden Konföderierten Südstaaten zu brechen, und die Institution der Sklaverei definitiv abzuschaffen – Jefferson, der Architekt der Unabhängigkeitserklärung von 1776, war noch Sklavenhalter ...
Auch die weitere Entwicklung der liberalen Demokratien zu unserem sozialen Wohlfahrtsstaat konnte nur dank ausreichender Versorgung der Industrieproduktion, des Verkehrs, der Distribution, Administration, Medizin usw. mit kostengünstiger Energie erfolgen. Bis zum heutigen Energiebedarf für alle unsere Handys, Pads und Tablets, Zahnbürsten und Espressomaschinen und Street Parades …
Und das Fazit unseres techno-ökologischen Nachdenkens? Zu vermeiden war der Einsatz der Kohle – und später des Erdöls – nicht, wenn man die Dynamik der Hoffnung auf den materiellen und sozialen Fortschritt in einer demokratischen Gesellschaft in Rechnung stellt. Der enorme, durch den historisch kaum vermeidbaren CO2-Ausstoss erkaufte Nutzen der Entwicklung steht ausser Frage; man muss nur den bis heute erreichten sozialen Fortschritt mit den Zuständen um 1800 vergleichen. Trotz der Aufgabe, die wir uns und unseren Enkelkindern dabei mit dem CO2 eingebrockt haben. Man bekommt halt nichts umsonst geschenkt ... Unsere Ahnen haben nicht gesündigt, als sie mit der Ausbeutung der fossilen Energiequellen begonnen haben, die aufkommende liberale Demokratie wäre ohne diese Energiequelle nicht lebensfähig gewesen.
Wir müssen wegen der ‹Erbsünde› unserer Ahnen kein schlechtes Gewissen haben, das die notwendige Tatkraft nur lähmen würde – stattdessen sollten wir uns den Herausforderungen der Zeit mit Zuversicht stellen. Wir müssen allerdings aufpassen, dass wir durch die Zwänge der Dekarbonisierung der Gesellschaft der Demokratie keinen Schaden zufügen.
Renewable Energy - Carbon Capture - Sustainable Development
3 JahreComme toujours: brilliant!
Dr. med. | Assistenzarzt Neurochirurgie Inselspital Bern / MD | Resident in Neurosurgery University Hospital Bern
3 JahreEmil Kowalski Lieber Emil, ich bin mit Deinem toll geschriebenen Text sehr einverstanden - für ein zeitgemässes Nichtwissen sollte kein schlechtes Gewissen erzwungen werden dürfen. Meiner Meinung nach allerdings sehr wohl für bequemes Nicht-Wissen-Wollen - und insbesondere natürlich auch für bewusste Ignoranz (sofern man geneigt sein sollte, der Menschheit ein Mindestmass an Verstand überhaupt zuschreiben zu wollen). „Sapere aude“ machte Kant (soweit ich mich erinnere) schon 1784 zum Leitspruch der Aufklärung. Und wer (seit 237 Jahren) nicht wagt, der (in meinen Augen) nicht gewinnt. Mit liebem Gruss, Cédric