Der Sport ist tot, lang lebe der Sport
Einiges los im Sport: Neues Personal an den Spitzen der großen Verbände, neue Regierung in Berlin und mit China und Katar stehen Großereignisse vor der Tür, die dem Sport einiges abverlangen werden. Das alles passiert in einem Umfeld von rückläufigen Mitgliederzahlen in fast allen deutschen Sportvereinen und einer andauernden Diskussion über die Vorbildrolle des Sports. Wie gehen wir damit um?
Fakt ist: Alle lieben den Sport. Und berufen sich gerne auf Werte, die wir vor allem dem Sport zuschreiben: Fairness, Zusammenhalt, Toleranz, oder Respekt. Jedes Unternehmensleitbild liest sich heute wie ein olympisches Manifest. Das liegt nahe, führt aber dazu, dass wir den Sport überhöhen und mit allerlei Dingen überfrachten, die er heute längst nicht mehr leisten kann. Wir stellen den Sport damit auf ein merkwürdiges Podest, überladen mit unseren Sehnsüchten und Idealen. Dabei verdrängen wir, dass der Sport nicht mehr und nicht weniger ist, als ein Teil von uns und unserer Gesellschaft. Er unterliegt den gleichen Spannungsverhältnissen, in denen wir alle tagtäglich agieren. Kein Fleisch essen, aber SUV fahren. Von Integration reden, die eigene Blase aber nicht verlassen. Menschenrechte hochhalten, aber T-Shirts für 9,99€ kaufen.
Wir sind alle auf der Suche nach dem neuen Richtig. Das anzuerkennen und ehrlich mit den Spannungen und Widersprüchen umzugehen, ist Grundlage für jede Veränderung und Weiterentwicklung. Blickt man auf das zurückliegende Jahr, drängt sich ein anderes Bild auf: Machtspiele, Korruption, Intransparenz und ein geradezu stoisches Festhalten an alten Strukturen und Denkmustern. Deshalb muss die Frage erlaubt sein, was der Sport anders machen und von den Veränderungsprozessen in der Wirtschaft lernen kann, wo auch nicht alles richtig gemacht wird, aber die Notwendigkeit zur Veränderung angenommen wurde.
Eine Annäherung in fünf Thesen.
1. Der Sport braucht klare Verantwortlichkeiten und mehr Frauen
In der Wirtschaft gibt es mit Aufsichtsrat und Vorstand klar definierte Rollen und Zuständigkeiten. Das hilft allen Beteiligten. Überall dort, wo sich Rollen vermischen, verschwimmen auch Verantwortlichkeiten. Das führt dazu, dass handelnde Personen sich hinter blumigen Worten und schönen Präsentationen viel zu einfach verstecken können. Präsentationen, in denen im Übrigen oftmals viel versprochen wird, die aber nur selten gelebt werden. Genauso wichtig ist es, die eigenen Strukturen zu hinterfragen. Muss der organisierte Sport wirklich die föderalen Strukturen der Bundesrepublik abbilden? Wäre es nicht Zeit für eine mutige Analyse, die Komplexität reduziert? Dabei hilft der Blick von außen. Genau wie interdisziplinäre Führungsteams und fachfremde Biografien. Die Lebensläufe heutiger Sportfunktionäre sind allerdings homogen und „verdient“. Das muss im Einzelfall sicherlich kein Manko sein, aber diverse Teams sind schlicht stärker. Deshalb kann es keine Ausreden geben, der Sport muss weiblicher werden. Wieso gibt es in Sportgremien fast keine Quoten für heterogene Teams?
2. Auch Vereine müssen sich verändern
Deutschland ohne seine Vereinsstruktur ist nur schwer vorstellbar. Sportvereine sind Gemeinschaft, Integrationsmaschinen und Familienersatz. Aber auch sie kommen aus einer anderen Zeit und müssen sich verändern: Vereine waren immer der Transmissionsriemen für gelebte Integration. Heute hat man das Gefühl, sie sind oft nur noch institutionalisierte Blasen bestimmter Milieus. Dagegen muss etwas getan werden, will man die integrative Kraft des Sports in der Breite erhalten und weiterhin für alle da sein. Denn genauso wie die Pandemie den Unternehmen gezeigt hat, dass Büros nicht gottgegeben sind, haben die letzten 18 Monaten deutlich gemacht, dass Leute heute (auch) anders Sport treiben. Nicht mehr zwingend in lebenslangen Mitgliedschaften, sondern flexibler und ungebundener. Darauf braucht es Antworten und neue Angebote, die der Lebenswirklichkeit der Menschen entsprechen. Wer repräsentiert eigentlich die 11 Millionen Menschen, die in hiesigen Fitnessstudios Sport treiben?
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3. Nutzt die Kreativität von Mitgliedern und Fans
Veränderung alleine geht nicht. Dazu braucht es aber keine großen Budgets, sondern vor allem die Offenheit und den Mut, Mitglieder, Fans und alle Interessierten aktiv einzubinden. Die Ideen sind da draußen, wir müssen sie nur zulassen und einfangen. Indem wir junge Menschen in Verantwortung nehmen, indem wir moderne Formen der Partizipation ausprobieren und mehr zuhören, als zu senden. Man kann von den vielen Digitallaboren in den DAX-Konzernen halten was man will, aber sie haben neue Ideen einfach ausprobiert und dazu beigetragen, in vormals eher starren Organisationen eine Kultur des Lernens und des Fehlermachens zu etablieren. Wir müssen daher raus aus dem Selbst-Verwaltungsmodus im Sport. Oder in anderen Worten: Warum gibt es so wenig paritätisch besetzte Sportgremien, in denen Fans, Mitglieder und Athlet:innen wirklich Einfluss gewinnen?
4. Transparenz, Transparenz, Transparenz
Transparenz hilft, an allen Ecken und Enden: Transparente (und begrenzte) Gehälter führen nicht zu weniger Wettbewerb, sondern machen den Sport für die Fans attraktiv. Den Beweis führen die US-amerikanischen Profiligen seit vielen Jahren. Wer Entscheidungsprozesse erklärt, schafft Verständnis und Nachvollziehbarkeit. Wer offen mit seinen Fehlern umgeht, schafft Vertrauen und ein Miteinander, das Innovation und Veränderung ermöglicht. Ohne Transparenz gibt es keine Partizipation. Das alles setzt viel und gute Kommunikation voraus. Das ist der Grund, warum Unternehmen viel investiert haben, um nach innen und außen zu informieren und zuzuhören. Vor allem in der Krise. Das professionelle Senden und Empfangen wird im Sport aber immer noch stiefmütterlich behandelt.
5. Wir brauchen Ehrlichkeit und Debatte
Hört auf schlecht übereinander zu reden. Egal um welches Thema es geht, man wird das Gefühl nicht los, dass es im Sport zurzeit nur Lager gibt, die viel zu wenig miteinander reden. Athlet:innen gegen Funktionär:innen. Breitensport gegen Leistungssport. Hauptamt gegen Ehrenamt. Politiker:innen gegen Sportler:innen. Nostalgie gegen Reform. Nur wenn man andere Meinungen zulässt und miteinander spricht, kommt man voran. Klingt banal, ist es aber nicht. Wenn der CEO eines großen Industrieunternehmens mit Vertretern von Fridays for Future spricht, dann profitieren beide Seiten. Ehrliche Debatten setzen allerdings die Einsicht voraus, dass der andere auch Recht haben könnte. Kurz: Die Zeit der Hinterzimmer und Egomanen ist vorbei.
Alle reden über Veränderung. Wir auch. Der Sport muss sich erneuern. Nur dann kann er wieder zu dem werden, wonach wir uns alle ein bisschen sehnen: ein echtes Vorbild. Nur dann kann sich die Kraft des Sports wieder voll entfalten: als ein Wertekompass, eine Integrationsmaschine und als ein relevanter gesellschaftlicher Akteur in einer immer weiter auseinanderrückenden Welt.
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2 JahreSehr gute Ansätze, ein Signal zum Aufbruch. Eine neue Ebene der Kommunikation, auf Basis von Ehrlichkeit zum wo wir stehen und zum neuen wie zur Anpassung auf die heutige Zeit.
Geschäftsführer thyssenkrupp Senior Experts GmbH
2 JahreKlasse auf den Punkt gebracht! Hat das Zeug für eine „Blaupause“. 👍