Deutschland, mach doch einfach mal.
“Deutschland wird der Weg in die postindustrielle Gesellschaft [...] durch einen technologischen Graben verlegt sein.”
Das sind die Worte von Manfred P. Wahl (Vizepräsident der IBM Europa 1972-1975) im November 1969 in einem Artikel in der Zeit. Das Zitat, das kaum aktueller sein könnte, beschreibt Deutschlands Umsetzungsproblem mit “neuen” Technologien in einem Satz. Lahmende Automatisierung und ein Mangel an Mut zur Innovation überschatten das Land, während sich die Ereignisse anderen Orts überschlagen und sich Märkte im Umbruch befinden. Deutschland diskutiert die eigene Rolle und Fähigkeiten als Land in der postindustriellen Gesellschaft seit über 50 Jahren. Und was ist bisher passiert? Am Reißbrett sind wir stark, in der Realwirtschaft hinken wir abgeschlagen hinterher.
Inkrementelle Verbesserungen anstatt bahnbrechender Innovation
Im vorindustriellen Zeitalter bescherte der Besitz von Produktionsfaktoren allein Nationen Reichtum. Heute, in Zeiten der Hochindustrialisierung, reicht das einfach nicht mehr aus. Stattdessen zählen die rationelle Nutzung, also die Verbesserung von Verfahren durch Automatisierung. Als Land, das lange Zeit als globales Aushängeschild für industriell gefertigte Produkte und Präzisionsteile galt, haben wir historisch eine inkrementelle Verbesserung eines etablierten Produktes der bahnbrechenden Innovation vorgezogen. Aber was bringt es uns, wenn wir die zuverlässigsten Kolbendichtungsringe herstellen, wenn die Steuerungseinheit des Elektroautos, in dem das Teil verbaut wird, aber im Silicon Valley sitzt. Zum großen Wurf setzte die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren nicht an, denn die "deutsche Gemütlichkeit" geht einfach besser mit der Optimierung einher, als mit radikalem Wandel.
Zeitgleich hielt der Einsatz von Computern weltweit Einzug in die Wirtschaft und Wissenschaft - Volkswirtschaften sind abhängig von der Nutzung neuer Technologien. Deutschlands Wirtschaft vertraut derweil noch immer auf stark veraltete Strukturen und steht in der Folge ohne wettbewerbsfähige Digitalwirtschaft da.
Die Wurzel des Problems findet sich zu großen Teilen in der deutschen Digitalpolitik der letzten Jahrzehnte wieder. Wenig wurde bisher für die digitale Trendwende getan. Eine vage nationale Digitalstrategie liegt vor, auf die bisher jedoch wenig konkretes Handeln folgte. Das große Problem wird nicht erkannt, anstattdessen suchen viele die Schuldigen im Startup-Kosmos und werfen Gründern mangelnde Innovationsfähigkeit vor. Das Augen verschließen bleibt nicht ohne Folgen, denn mit der digitalen Zukunft unseres Landes werden gleichzeitig der Wirtschaftsstandort Deutschland, und mit ihm viele innovative Geschäftsideen und Technologien aufgegeben.
Wo Mitarbeiter in deutschen Ämtern immer noch auf Windows 10 warten, findet die digitale Revolution des Staates anderswo statt
Deutschen Unternehmen einen mangel an Innovationskraft vorzuwerfen ist eine Sache. Eine andere ist die Digitalstrategie der Bundesregierung. Viel wird lamentiert, auf groß angelegten Gipfeln angekündigt und in Pressekonferenzen zugesagt. Wenig hingegen wird umgesetzt. Und das, was umgesetzt wird, folgt allem Anschein nach einer Strategie, die der Realität ferner nicht sein könnte, denn “während die Mitarbeiter in deutschen Ämtern immer noch auf Windows 10 warten, findet die digitale Revolution des Staates anderswo statt”, im Ausland nämlich - so bringt es Sebastian Matthes im Handelsblatt auf den Punkt.
Die Digitalausgaben der Bundesregierung belaufen sich auf ca. 3,8 Milliarden Euro. Bei einem Bundeshaushalt von rund 360 Milliarden Euro also ca. 1 %. Wo einerseits Schlachtrufe laut werden, man wolle Deutschland an die Spitze der globalen KI-Wirtschaft befördern und die Europäische Kommission ankündigt 20 Milliarden Euro jährlich im Bereich KI zu investieren, wird die Bundesregierung in Sachen Bereitstellung von Finanzmitteln kleinlaut und wähnt sich lieber mit Bundeshaushalten mit zweistelligen Milliardenüberschuss im Sicheren - der Wähler in Deutschland schätzt Sparsamkeit schließlich. Und das ist auch vollkommen in Ordnung so, wenn an anderer Stelle in großem Maße Kommunikationsarbeit betrieben wird, die Unternehmen dazu befähigt, selbst in KI zu investieren und die Vorteile zu erkennen. Andere Anreize müssen für Unternehmen gesetzt werden, wenn sie in KI und Digitalisierung investieren. Ob man diese Anreize aber überhaupt erkennen und gestalten kann, wenn sie gefaxt und ausgedruckt in Gittermappen abgeheftet im Ministerium ein eher tristes Dasein fristen, stelle ich in Frage.
Schon heute ist Deutschlands digitale Wirtschaft stark auf das Ausland angewiesen. Aufgrund gewisser Standortnachteilen gegenüber anderen Ländern (schlechte Lösung zur Mitarbeiterbeteiligung, geringeres Gehaltsniveau im Tech-Bereich, Sprachbarriere etc.), zieht Deutschland weniger Talent an und Investitionen in die vorhandenen Unternehmen stammen fast gänzlich aus dem Ausland. Das bedeutet im Umkehrschluss auch, dass langfristig Gewinne dorthin abfließen werden. Die Zukunft Deutschlands liegt, durch die gelähmte Haltung des Landes, momentan nicht in unseren Händen. Schlimmer noch: in Deutschland entwickelte Drohnen fliegen in Dubai oder Singapur. Nicht etwa hier, wo die Technologie entwickelt wurde, sondern dort, wo die Politik verstanden hat, dass sie die Zügel für die Zukunft der eigenen Wirtschaft selbst in die Hand nehmen muss.
An apple a day keeps shareholders at bay
Die Konsequenzen für Deutschland könnten dramatischer kaum sein. Der etablierte Wirtschaftsstandort wird ohne Kehrtwende zukünftig von anderen Volkswirtschaften abgelöst werden. Ein Beispiel für den bereits stattfindenden Prozess, ist das amerikanische Unternehmen Apple, das mittlerweile mehr wert ist, als alle 30 DAX-Unternehmen zusammen. Die Gründe hierfür sind einfach. Während Apple von hohen Nettoumsatzrenditen von 20-30 % profitiert, kommen deutsche Unternehmen im Schnitt auf einen Wert um 5 %. Das liegt vor allem an den veralteten Strukturen der deutschen Wirtschaft, die im heutigen Zeitalter nicht mehr effektiv genug sind. Arbeiten, bei dem der Computer den Menschen schon längst unterstützen könnte werden weiterhin manuell erledigt, was die Kosten in die Höhe, und Nettoumsatzrenditen in die Tiefe treibt. Das schreckt Anleger ab. Langsam, aber sicher schiebt sich die deutsche Wirtschaft ins Aus. Der Status Quo der deutschen Wirtschaft ist nicht akzeptabel und ohne eine starke Trendwende wird nachhaltiges Wachstum und der Standort selbst, nicht haltbar bleiben.
Eine 50 Jahre alte Überraschung
Manfred Wahl nannte unser Problem bereits vor 50 Jahren beim Namen. Die digitale Wende und die mit ihr einhergehende Umstrukturierungen dürften in Deutschland eigentlich niemanden überraschen. Doch trotz Warnung befindet sich Deutschland zurzeit nur im digitalen Mittelfeld. Längst sind China und die USA vorbeigezogen und andere Nationen folgen dicht auf den Fersen.
China setzt auf eine innovationsgetriebene Wirtschaft und überzeugt mit moderner Infrastruktur und immens hohen Investitionen. Das führt dazu, dass die Volksrepublik gegenüber Deutschland sowohl investitions-, aber auch standortbedingt überlegen ist. Ziel des Landes, mit der zweithöchsten Dichte an KI-Unternehmen weltweit, ist es bis 2030 weltweit führender KI-Innovator zu sein. Ein Ziel, das sich für Deutschland schlicht niemand traut auszusprechen.
Auch die USA profitieren von guten Standortbedingungen, die globales Talent anziehen und halten kann. Die Nutzung von künstlicher Intelligenz ist für amerikanische Unternehmen längst zur Selbstverständlichkeit geworden.
Auf diesen Zug sind auch unsere Nachbarn im Westen aufgesprungen. Frankreich, ein Land, das heute zweifelsohne noch nicht zu den digitalen Vorreitern zählt, könnte dies mit dem neuen Digitalfond aber bald tun. Der von Präsident Emmanuel Macron initiierte Fond in Höhe von fünf Milliarden Euro soll bis 2025 ganze 25 französische Unternehmen mit einem Wert von über einer Milliarde Euro schaffen. In Deutschland gibt es ähnliche Konzepte, auf die jedoch bisher keinerlei Handlungen gefolgt sind. Es wird über Digitalisierung gesprochen, digitales Handeln aber ist Fehlanzeige.
Dabei kommen trotz der denkbar schlechten Ausgangslage unzählige innovative und erfolgreiche Startups aus Deutschland. Nur ein Beispiel sind eine Reihe an Unternehmen, die erst in den 2010ern gegründet, und inzwischen mit mehreren Millionen bewertet werden. Besonders digitale Produkte und KI-Technologie haben ihren Ursprung oft in deutschen Startups. Deutschlands digitale Perspektive ist groß, wenn das vorhandene Potential genutzt werden würde.
Vor über einem halben Jahrhundert wurde vor den digitalen Problemen gewarnt, mit denen das Land heute zu kämpfen hat. Die Tatsache, dass der 1969 veröffentlichte Artikel “Die technologische Lücke” die aktuelle Lage so passend beschreibt, dass ein mancher annehmen könnte, dass dieser aktuell ist, steht sinnbildlich für den technologischen Stillstand. Wir können uns in Deutschland glücklich schätzen, dass es nach 50 Jahren immer noch nicht zu spät ist zu handeln. Künstliche Intelligenz bietet uns die einmalige Chance aufzuholen, was wir in der Digitalisierung verpasst haben. Es ist an der Zeit jetzt aktiv nach Lösungen zu suchen und auf die Welle aufzuspringen, bevor sie uns endgültig überrollt.
Managing Partner at Devox Software | Delivering Tailored Software Solutions for the Marketing Tech Industry
8 MonateChristopher, thanks a bunch for sharing this! 😊
Chief Operating Officer at LiveDOOH Signkick
4 JahreAusgezeichneter Artikel. Die Situation ist sehr beunruhigend, wenn wir auch die Unfähigkeit und Langsamkeit des privaten und öffentlichen Sektors berücksichtigen, sich an die neuen und kurzen Lebenszyklen der Technologie anzupassen.
Head of Business Development design hoch drei who creates profound communication for the technologies of tomorrow
4 Jahredoing is better than talking