Die 7 Upps der Agilität - Kapitel 7

Die 7 Upps der Agilität - Kapitel 7

Welche Wege führen zu mehr Agilität? Worüber stolpern Unternehmen dabei immer wieder? Und worauf gilt es zu achten, damit das Ganze nicht zur Pannenshow ausartet? Das ist der siebente und damit letzte Teil meiner Blog-Serie zum Thema agile Veränderung. Noch einmal umreiße ich einige charakteristische Phänomene, die ich in meiner Arbeit mit diversen Unternehmen immer wieder erlebe. Freue mich, wenn Sie sich in dem einen oder anderen Szenario wieder erkennen und freue mich noch mehr, wenn Sie die von mir beschriebenen Präventions- und Erste Hilfe-Maßnahmen nützlich finden. 

Kapitel 7: Agil ist für alle(s) gut

  • Was haben Sie bisher schon alles versucht, um Ihr Problem zu lösen? 
  • Nichts, was uns wirklich geholfen hätte.
  • Und was müsste passieren, damit sich das ändert?
  • Naja, das Ganze muss einfach viel agiler werden… 

Dabei sein ist alles, lautet jener olympische Gedanke, mit dem ich meine Blog-Serie zu agiler Veränderung eröffnet habe. Ich schließe mit einem Motto, das nicht zufällig wie ein Echo klingt: agil ist für alle(s) gut! Wirkt Agilität also doch als universales Wundermittel? Als eine Art von Breitbandtonikum gegen jedwedes Organisationsleiden? Als Zaubertrank, der von agilen Miraculixen verabreicht wird?

  • Wie andere Buzzwords des Managements funktioniert der Begriff agil ein bisschen wie ein Rohrschachtest, bei dem jeder Betrachter seine eigenen Vorstellungen auf einen unförmigen Tintenfleck projizieren kann. Dementsprechend unterschiedlich sind die Definitionen, die einem in der Praxis zu Ohren kommen: für einen mittelständischen Autozulieferer ist agil eine wichtige Arbeitsmethode, die die Qualität der Projekte steigert; für ein Infrastrukturunternehmen vor allem ein Mindset, das ein völlig neues Denken fördert; für eine Softwareschmiede fungiert Agilität als Werkzeugkiste, der man situativ das passende Tool entnehmen kann; für einen großen Versicherungskonzern bedeutet es wiederum einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel, der die gesamte Geschäftsphilosophie verändert. 
  • Wo ist da das Problem?, kann Ich Sie förmlich fragen hören. Immerhin sind die genannten Unternehmen höchst unterschiedlich, die Welt bunt wie noch nie und die Ansprüche von Kundinnen wie Mitarbeitern entsprechend vielfältig. Problematisch ist natürlich nicht die Vielfalt an sich, sondern die unterschiedlichen Strategien, die auf dem jeweiligen Grundverständnis aufgebaut werden. Was genau soll eigentlich verbessert werden? Wie hilft einem Agilität dabei? Worauf konzentriert sich die Verbesserung? Die organisationsentwicklerischen Antworten reichen von individuellen Schulungen (agil als Mindset) über die Stärkung der crossfunktionalen Zusammenarbeit (agil als Teammethode wie in Kapitel 4 ausgeführt) bis zur Ressourcenoptimierung (agil als Flexibilität).
  • Notabene sind nicht nur die Strategien sehr unterschiedlich, sondern auch die Ergebnisse, die damit erzielt werden. Agilität kann die Wahrnehmungsfähigkeit schulen (bessere Kundenorientierung), die Mitarbeiter-Zufriedenheit steigern (bessere Arbeitskultur), die Produktivität erhöhen (bessere Entwicklungsergebnisse) oder die Attraktivität des Arbeitgebers ausbauen (besseres Image). Scheinbar ist Agilität also doch für vieles, wenn nicht alles gut. Brauchen wir also nichts anderes mehr, um die aktuellen Herausforderungen zu meistern? Ist Agilität ein Synonym für erfolgreiches Change Management im 21. Jahrhundert?
  • Nicht unterschiedlich, sondern erstaunlich einheitlich erscheint mir hingegen die Ansicht, dass Agilität etwas völlig Neues mit sich bringt— und zwar etwas, das jetzt ganz viele Unternehmen haben wollen. Das passt zum Innovationsdruck, dem sich heutzutage kaum ein Unternehmen entziehen kann. Dabei wird leicht übersehen, dass Unternehmen immer schon ein gewisses Maß an Agilität an den Tag legen mussten, um auf einem Markt erfolgreich zu agieren, der eben nicht erst seit gestern volatil, unsicher, komplex und ambig ist. Mag gut sein, dass sie ihr Vorgehen nicht agil nennen — Kundennähe, regelmäßiges Feedback, strategische Klarheit und reaktionsschnelle Umsetzung sind dennoch seit langem essenzielle Erfolgsfaktoren.

Was können Sie also tun, ohne das Rad neu zu erfinden? Um ihre agilen Potenziale zielgerichtet auszubauen? Und dabei die bestmögliche Wirkung zu erzielen?

  • Ein solides Begriffsverständnis ist schon einmal ein guter Anfang. Rege, wendig, beweglich, klärt uns der Duden über die wörtliche Bedeutung von agil auf. Buchstäblich hat das Wort also weder mit Flexibilität oder Innovation noch mit Kultur oder Mindset zu tun. Hüten Sie sich also vor dem, was die Heath-Brüder semantic stretch genannt haben. Andernfalls laufen Sie Gefahr, dass agil das Schicksal vieler einstmals kraftvoller Begriffe teilt: ein hippes, allerdings unscharf eingesetztes, zunehmend inflationär gebrauchtes und entsprechend sinn-entleertes Schlagwort zu werden, bei dem immer mehr Leute die Augen verdrehen.
  • Achten Sie auch darauf, nicht völlig unterschiedliche Abstraktionsebenen miteinander zu vermischen. Gewissermaßen, wie das Niklas Modigs und Pär Ahlströms am Beispiel von Lean ausführen, Obst im Allgemeinen (agil als Philosophie, Wertekanon oder Kultur), Kernfrüchte im Engeren (agil als Methode, Prozess oder Framework) und grüne Äpfel im Speziellen (agil als Standup, Retrospektive oder iterative Planung). Sorgen Sie für die notwendige Klarheit, was genau Sie im Blick haben und wie Sie die verschiedenen Ebenen sinnvoll verknüpfen!
  • Sowohl die Inflations- als auch die Abstraktionsfalle unterstreichen die Notwendigkeit, genau hinzuschauen: Was genau wollen Sie verbessern? Wer muss sich dafür in Bewegung setzen? Und wie genau erkennen Sie, dass Sie dabei wie gewünscht vorankommen? Es geht, mit anderen Worten, um strategische Fokussierung, die selbstverständlich - soviel Agilität muss dann schon sein - laufend überprüft und gegebenenfalls angepasst werden sollte. Widerstehen Sie der Versuchung, Lösungen, die sich in anderen Kontexten bewährt haben, nach copy and paste-Prinzip in Ihr Unternehmen zu übertragen. Und hüten Sie sich auch vor standardisierten Agilisierungs-Landkarten — die Wahrscheinlichkeit, dass diese genau zu Ihrer Unternehmens-Landschaft passen, ist recht überschaubar. Setzen Sie sich stattdessen mit Ihrer konkreten Situation auseinander, schärfen Sie Ihre Wahrnehmung, identifizieren Sie spezifische Hebelpunkte und definieren Sie Beobachtungs- und Messkriterien, um die gewünschte Verbesserung auf Kurs zu halten! 
  • Übersehen Sie nicht, dass es bei aller strategischen Fokussierung immer auch um den psychologischen Aspekt geht. Gerade bei der Agilität menschelt es gehörig - schließlich stehen individuals and interactions nicht umsonst im Zentrum des agilen Manifests. Trotzdem ist agil nicht für alle gut: weder für alle Kunden noch für alle MitarbeiterInnen oder Stakeholder. Es ist eben - so die alte Change Management-Weisheit - nie möglich, jeden und jede zu gewinnen. Machen Sie Ihre agile Transformation nicht zur Zwangsbeglückung, widerstehen Sie aber ebenso der Versuchung, es allen recht zu machen. Das führt nämlich - wie ich in Kapitel 5 zu „Schöner Wohnen“ darstelle - fast unausweichlich zu Konfliktvermeidung und übertriebener Kompromissbereitschaft. Definieren Sie stattdessen klare Erwartungen und die Rahmenbedingungen, innerhalb derer diese Erwartungen zu erfüllen sind. Am Ende hilft das jeder und jedem Einzelnen am meisten, um ihre oder seine persönlichen Antworten auf die zentralen Veränderungsfragen zu finden: Muss ich agiler werden? Verstehe ich die unternehmerische Notwendigkeit? Will ich das? Bin ich bereit, mich auf das Abenteuer Agilität einzulassen? Kann ich das? Habe ich alle Fähigkeiten, die es dafür braucht?
  • Last but not least ist agil nicht zwangsläufig für alle Unternehmensbereiche gut ist. Stattdessen zeigt uns das von Simon Wardley entwickelte Mapping, wie wir verschiedene Einsatzgebiete sinnvoll unterscheiden können. Die Landkarte, die dabei entsteht, stellt die Ist-Situation nach zwei Dimensionen dar: erstens dem Wert, den ein bestimmtes Produkt oder Service für den Kunden hat; und zweitens der Maturität des jeweiligen Produkts oder Services. Je nach dem, ob es sich nun um völlig neue Ideen, um maßgeschneiderte Dienstleistungen, um standardisierte Produkte oder um Massenware handelt, ist Agilität von sehr unterschiedlichem Nutzen. Pi mal Daumen gesagt: Überall dort, wo es Unternehmen mit hoher Komplexität und Unsicherheit zu tun haben, sehr wohl; überall dort, wo es um operationale Effizienz geht, eher wenig. Investieren Sie die Energie, um ein paar schlaue Köpfe zu versammeln und eine differenzierte Landkarte auszuarbeiten — die gemeinsame Übersicht wird es Ihnen ebenso danken wie eine klare strategische Ausrichtung, die sich die notwendigen Fakten vor Augen führt statt sich blindings in agile Veränderung zu stürzen.
gerold kathan

"enabling systemic change for thriving enterprises and a better world" - enterprise therapy & transformation

5 Jahre

#brilliant

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