Die acht Aspekte des Selbst am Beispiel der narzisstischen Störung
Copyright Sylvia Pietzko, erstellt mit Canva

Die acht Aspekte des Selbst am Beispiel der narzisstischen Störung

Vor einigen Tagen sah ich die Grafik einer Treppe, bestehend aus fünf Stufen, zum Thema „Selbst" und „Selbstzuwendung“. Erstellt hat sie meines Wissens nach Wolfgang Roth , geteilt wurde der Beitrag von Jessica Schäfer . Meine Kommentar-Frage, ob der ersten Stufe, der Selbstzuwendung, nicht der Selbstwert vorangehen sollte, fand leider bislang keinen Eingang in den Diskurs.

Doch das Thema hat mich beschäftigt, auch sicher nicht zum ersten Mal, aber intensiver. Heraus kam meine eigene kleine Grafik und ein paar Gedanken, die ich mit euch teilen möchte. Sie haben keinen Anspruch auf „Wahrheit“ oder auf ein „Jetzt ist alles dazu gesagt“, auch nicht auf ein „besser als die Treppe“. Außerdem gibt es noch sooo viele weitere schöne Wörter, die mit „Selbst-“ beginnen und die hier nicht vorkommen, bestenfalls implizit. Ich freue mich einfach, eure Meinungen und Ideen dazu zu hören, um ggf. selbst besser oder zumindest inspiriert zu werden.

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Im Guten wie im Schlechten: Es beginnt mit dem Selbstwert ...

Mir wurde klar: Ich sehe die Stufen des Selbst gar nicht als Stufen, bei denen man irgendwann am Ende oder am Ziel angekommen ist! Ich sehe sie als Kreislauf.

Der fängt mit dem Selbstwertgefühl an. Das bereits in sehr jungen Jahren aufgebaut und positiv gestärkt wird – heraus kommen zuversichtliche junge Menschen, die alle Chancen haben, zu ausgeglichenen, empathischen, starken Erwachsenen heranzureifen.

Wird das Selbstwertgefühl jedoch in den ersten Lebensjahren permanent angegriffen – durch verbale und non-verbale elterliche Botschaften wie „Du bist klein, dumm, böse, zu anspruchsvoll, nichtsnutzig, nicht liebenswert, eine Plage, du hättest gar nicht geboren werden sollen u.s.w.“ – entstehen zutiefst beschämte, verunsicherte Menschen, die in späteren Jahren ihr frühes Trauma durch Arroganz, Perfektionismus, Machtstreben, aber auch durch Hypochondertum, Mitleidstour und Opferrolle ausleben müssen. Hauptsache, sie bekommen die Aufmerksamkeit, die ihnen als Kind verwehrt worden ist.

Mythos selbstverliebter Narzisst

Diese Menschen – ihr Störungsbild nennt sich u.a. #Narzissmus – können sich auch nur ganz schwer wirklich sich selbst zuwenden. Dass Narzissten selbstverliebt seien, ist übrigens ein Mythos, der unbedingt aufgedeckt gehört! Die Wahrheit ist: sie lieben sich selbst nicht, und können deshalb auch keinen anderen Menschen lieben.


Kleiner Exkurs: Narzissmus ist erstmal keine Diagnose, sondern eine neutrale Beschreibung verschiedener Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen. Wer zu wenig davon hat, ist psychisch auch nicht gesund. Bordet dieses Verhalten allerdings über, schlägt es in das um, was unter extremen narzisstischen Zügen bis hin zum – dann von einem Psychiater oder Therapeuten diagnostizierten – pathologischen Narzissmus gemeint ist. „Narzisst“ in meinem Sprachgebrauch ist also lediglich das Extreme beschreibend und im Sinne des von mir geliebten generischen Maskulinums gemeint.


Die Selbstwahrnehmung ist auf diese Art und Weise auch verzerrt, denn mit ihrem beschädigten Selbstwert konfrontiert zu werden, ist das, was unbedingt vermieden werden muss!

Das Selbstbewusstsein ist demnach je nach Interpretation des Wortes nicht vorhanden, oder es ist eine Maske: Das ganze Leben als Inszenierung, als permanentes Schauspiel, bei dem sich selbst bewusst oder unbewusst in die Tasche zu lügen dazu gehört.

Ellenbogenmentalität ist nicht gleich gute Selbstführung

Selbstführung? Fehlanzeige! Doch Moment, sind Narzissten nicht diejenigen, die sich mit Ellenbogenmentalität und Stutenbissigkeit erfolgreich bis ganz nach oben kämpfen?! Jein. Dies trifft auf offene, grandiose narzisstische Anteile zu. Die verdeckten, vulnerablen narzisstischen Anteile verhalten sich anders, subtiler, unbemerkter. Und sind deshalb noch gefährlicher!

Ihr könnt das wie zwei Seiten einer Medaille sehen: der grandiose Narzisst trägt seine Verletzung im Innern und überspielt sie äußerlich. Der vulnerable Narzisst stellt seine Bedürftigkeit öffentlich zur Schau, träumt im Inneren von Großartigkeit und ist nicht selten als „Versager“ am unteren Ende der gesellschaftlichen Nahrungskette zu finden, von wo aus er seine Mitmenschen dann manipuliert ...

Beiden Varianten gemeinsam ist: Mitgefühl für andere Menschen ist im Lager nicht vorrätig, denn die alleinige Aufmerksamkeit, die braucht der Narzisst wie die Luft zum Atmen! Doch nicht nur für die Befriedigung des eigenen Egos, auch und vielleicht noch viel mehr für gute soziale Beziehungen, Impulskontrolle etc. braucht es Selbstführung.

Vertrauen in die eigene Wirksamkeit

Wahre Selbstwirksamkeit – die Erfahrung und das Wissen, dass mein Wirken mich meist zuverlässig zum gewünschten Ziel führt und ich nicht ohmächtig anderen Leuten oder der Welt da draußen ausgeliefert bin! – in allen Lebensbereichen ist bei einer solchen „Vorgeschichte“ im Kreislauf nicht möglich.

Dementsprechend ist da auch höchstens ein vorgetäuschtes Selbstvertrauen, wenn ich zwar

  • egomanisch meine Triebe, Emotionen und Impulse ausagiere,
  • wenn ich jedoch nicht in der Lage bin, mich selbst zu spüren,
  • meine Verletzungen zu heilen oder wenigstens zu betrachten und mit professioneller Hilfe versorgen zu lassen,
  • meinen Nächsten zu fühlen und mir bewusst zu werden, was ich mir selbst und anderen antue,
  • und merke, dass mein Leben keinen Sinn hat (ältere Narzissten, denen das in einer einsamen ehrlichen Stunde klar wird, die suizidieren sich dann leider recht häufig)

– wie soll ich mir dann selbst vertrauen!?

Reflect, Repeat ...

Im Unterschied zum Narzissten ist der Mensch mit dem positiven Basis-Selbstwertgefühl am Ende des Tages auch in der Lage, ehrlich und vielleicht ein bisschen mutig in den Spiegel zu schauen und in die Selbstreflexion zu gehen. Ist das, was er sieht, geeignet, sein Selbstwertgefühl zu stärken oder zu bestätigen? Oder sind Dinge vorgefallen, – wie sie im Leben jedes Menschen nun mal passieren! –, die das Selbstwertgefühl angenagt haben und die behutsamer Zuwendung bedürfen?

Auf in die nächste Runde ...




Wenn ein Mensch feststellt einen geringen oder keinen Selbstwert zu empfinden kann er sich trotzdem sichselbst zuwenden dass herausfinden und sich durch Selbszuwendung Selbstwertgefühl erarbeiten?!

Hallo Sylvia, bin auch vom Fach und kenne nur Männer die einige von Dir beschriebene Verhaltensweisen sehr deutlich zeigen. Zeigen Frauen kranke Dominanzen ganz anders?? Männer kenne ich viele. Toller Beitrag. Gruß Anna Minhöfer @

Oliver Maar

Yogalehrer & Konfliktberater

1 Jahr

...und noch eine zweite Bemerkung, zu den Worten "Mitgefühl für andere Menschen ist im Lager nicht vorrätig" - es gibt in dysfunktionalen, traumatisierenden Umfeldern noch eine andere kindliche Reaktion: Ein Übermaß an Empathie entwickelt sich, die Bezugsperson wird so genau beobachtet, ganz präzise lernt das Kind, den Zustand zu analysieren, um ja nicht den Moment zu verpassen, wann doch mal ein Krumen Wärme abfallen könnte oder wann die Gefahr heftiger Reaktionen auf die eigene Lebensäußerung mal nicht so groß ist oder wann das Kind besser unsichtbar werden sollte - ein so hohes Maß an Mitgefühl, einfühlendem Beobachten der anderen entwickelt sich, dass leider eines auf der Strecke bleibt: Es ist nur noch sehr begrenzt bis kein Raum mehr da, die eigenen Bedürfnisse, Empfindungen, Gefühle zu erfahren, mit auf die Jahre gesehen oft dramatischen Folgebildern an psychischem und psychosomatischem Leid.

Oliver Maar

Yogalehrer & Konfliktberater

1 Jahr

Hallo Frau Pietzko und vielen Dank für den gelungen Artikel. Am Anfang steht das Selbtwert. Wir kommen als Flamme auf die Welt, als pure Lebensenergie und Lebensbejahung. Selbstwert und die Sicherheit um die eigene Kompetenz sind bei 100%. Wieso? Weil es da noch kein Konzept gibt, das die Kompetenz überhaupt in Frage stellt. Und dann passieren alle möglichen Dinge und viele Menschen bauen eine Trutzburg aus Kompensations- und Abwehrmechanismen um ihre Flamme, um den Selbstwert zu schützen. Und schließlich vergessen dann leider sehr viele, dass sie nicht die Trutzburg sind, sondern die Flamme, dieses lebensbejahende, neugierige Wesen. Und identifizieren sich stattdesssen mit ihren Abwehr- und Kompensationsmechanismen, die zu irgendeiner Zeit alle mal großen Sinn hatten. Tatsächlich stimme ich mit Ihnen überein, am Anfang steht das Selbstwerterleben (oder eben dessen Wiederherstellung): als Basis, das menschliche Bedürfnisse nach Entfaltung in sicherer Bindung auszuleben.

Wie wahr, wie wahr...Gott sei Dank nicht mit derartigen Menschen umgehen müssen

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