Die Bedeutung von Rhythmen für Leben und Gesundheit (2)
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Die Bedeutung von Rhythmen für Leben und Gesundheit (2)

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Der Philosoph Ludwig Klages (1872 - 1956) wies auf die erneuernde Kraft des Rhythmus hin, indem er formulierte: "Der Takt wiederholt, der Rhythmus erneuert." Im Gegensatz zum maschinenhaften Takt, der eine ständige Wiederholung desselben darstellt, verändert der Rhythmus sich permanent in Anhängigkeit vom Ganzen. Der Takt ist starr und tot, der Rhythmus, die Melodie des Lebens, ist elastisch und entwicklungsfähig. Die rhythmische Wehentätigkeit bei einer Geburt, die vertiefte Atmung eines Sterbenden, die rhythmische Vereinigung beim Sex, das rhythmische, schallende Gelächter, in das wir ausbrechen, wenn uns der Kleinmut unserer Sorgen angesichts der Größe des Lebens bewusst wird - all diese Begleiterscheinungen von Ausnahmesituationen des Lebens, in denen wir über uns hinauswachsen oder uns Neuem öffnen, sind äußerer Ausdruck der verwandelnden, erneuernden Kraft, von der hier die Rede ist.

Leben im Einklang. Allen uns bekannten Kulturen des Altertums und der Vorzeit lagen Vorstellungen und Erkenntnisse über eine rhythmische Weltordnung zugrunde. Sie bildeten sogar das Zentrum dieser Kulturen. Die Bedeutung der Astrologie in allen antiken Hochkulturen, aber auch in vergleichsweise einfachen Gesellschaften wie in der so genannten Steinzeit, zeigt, dass die Menschen sehr früh schon von den Rhythmen und Zyklen der Gestirne und Himmelskörper wussten. Kultstätten und Tempel waren zugleich Observatorien. Aber auch irdische Phänomene, wie Wasserstand, Wetter, Wolken und Vogelflug wurden in diesen Stätten systematisch beobachtet, um die zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und für das Leben nutzbar zu machen. Aussaat- und Erntetermine wurden auf ihrer Grundlage festgelegt. Kalender- und Orakelwesen prägten die Alltagskultur und die soziale Ordnung in den alten Gesellschaften, von China über Europa bis nach Mittel- und Südamerika. Meist war es die Priesterschaft, welche den Kalender verwaltete und dadurch über enorme Macht und Einflussmöglichkeiten verfügte - bis hin zur Festlegung von Zeiten für Arbeit und sexuelle Aktivitäten, für Kriegszüge und Tempelbau, für das Feiern und Fasten. Für die einfachen Menschen, die diese Regeln befolgten, waren die von oben gegebenen Zeitstrukturen ein Ausfluss göttlicher Weisheit und Macht. Sie waren eingebunden in eine alles umfassende natürliche und religiöse Ordnung, die bis hin zum Tagesablauf und zu den Körperfunktionen alles regelte.

Die Ursachen von gesundheitlichen Einschränkungen und Krankheiten wurden nicht, wie heute üblich, in körperlichen Strukturen gesucht, sondern im gestörten Zusammenhang mit der rhythmisch strukturierten Weltordnung. Insbesondere aus Asien ist heute eine sehr hoch entwickelte Chronomedizin (in Form der Traditionellen Chinesischen Medizin, des Ayurveda und der Tibetischen Medizin) überliefert. Die chinesische "Organuhr" beispielsweise gibt einen genauen Zeitplan an, nach dem die Lebensenergie durch die Organsysteme fließt, mit Maximalzeiten etwa für die Leber um etwa zwei Uhr nachts, für das Herz am Mittag und die Niere am Nachmittag, die sich zum Teil mit modernen chronobiologischen Erkenntnissen in Einklang bringen lassen. Therapiemaßnahmen wie Diätvorschriften, Regeln für die Lebensweise und die Einnahme von Arzneien waren zeitlich genau festgelegt. Akupunkturbehandlungen und spezielle Untersuchungen wie die Pulsdiagnostik fanden in Abhängigkeit von Tages- und Jahreszeit sowie astronomischen Konstellationen statt.

In der modernen Zivilisation, die mit einer Emanzipation und Ablösung von natürlichen und religiösen Zeitordnungen einhergeht, erfreuen sich solche traditionellen Systeme wieder einer zunehmenden Beliebtheit. Die alten Weisheitslehren kommen einem zunehmenden Bedürfnis nach einer sinnvollen Chronohygiene, welche die Selbstheilungskräfte unterstützt, entgegen. Auch in der abendländischen Antike gab es verwandte Konzepte, vor allem in der aus Griechenland kommenden Vier-Säfte-Lehre, nach der die vier Elemente (Erde, Wasser, Luft, Feuer), die vier Körpersäfte (schwarze Galle, Schleim, Blut und gelbe Galle) den Temperamenten, Konstitutionen, aber auch den Jahreszeiten, Lebensaltern und Tageszeiten zugeordnet werden. Die vielen Querbezüge, die es zwischen den traditionellen asiatischen und den abendländisch antiken Lehren gibt, sind Ausdruck einer vergangenen, globalen Mysterienkultur, die in weit reichendem Austausch stand. Die in das Kalenderwesen und die Geheimnisse der Zeit Eingeweihten waren die geheimen Herrscher des Altertums.

Abendländische Umwege. Im christlichen Mittelalter hatte sich das alte Wissen um die Zeit und ihre Geheimnisse jedoch weitgehend verloren. Vereinzelte Hinweise auf chronobiologische Zusammenhänge, z.B. auf das rhythmische Öffnen und Schließen von Blättern und Blüten, wurden nicht systematisch verfolgt. Mephistos Worte aus Goethes Faust könnten gleichsam als Motto über der abendländischen Entwicklungslinie stehen, aus der schließlich die Naturwissenschaften mit ihrem Trend zur Spezialisierung hervorgegangen sind: /"Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben, Sucht erst den Geist herauszutreiben, Dann hat er die Teile in seiner Hand, Fehlt leider! Nur das geistige Band!"/

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Erste moderne, systematische Darstellungen einer rhythmischen Naturordnung finden wir bei dem Naturforscher Carl von Linné. 1745 beschrieb Linné eine "Blumenuhr", ein rundes Beet, auf dem verschiedene Blütenpflanzen kreisförmig so angeordnet waren, dass man aus ihrem Öffnen und Schließen die Tageszeit ablesen konnte. Zu Zeiten der Aufklärung hatte man im öffentlichen Kulturleben Europas keinen Zugang mehr zu dem alten Wissen über die Rhythmen, das in den traditionellen asiatischen Medizinsystemen bis heute lebendig ist. Neue Erkenntnisse entstanden auf der Grundlage von naturwissenschaftlicher Beobachtung und Experimenten. Sie waren, wie Linnés Beschreibung der Blumenuhr, nachprüfbar und reproduzierbar. Die Entdeckung von Tagesrhythmen (auch Zirkadianrhythmen genannt) beim Menschen ließ nicht lange auf sich warten. Im Jahre 1814 beschrieb der französische Arzt J. J. Virey in seiner Dissertation den Menschen als "lebende Uhr" (l'horloge vivante). 1845 stellte der amerikanische Mediziner J. Davy die 24-Stunden-Variationen der Körpertemperatur dar, den bis heute wichtigsten Zirkadianrhythmus. 1928 entdeckte der Schwede Erik Losgren den antizyklischen Rhythmus der Sekretion von Gallenflüssigkeit und der Speicherung von Energiebausteinen (Glykogen) in der Leber. Bis dahin war es schlicht unvorstellbar gewesen, dass die Leber diesen beiden völlig unterschiedlichen Aufgaben nicht gleichzeitig nachkommt.

Seitdem wurden zahlreiche Rhythmen entdeckt und beschrieben: Rhythmen von Blutdruck und Puls, Organdurchblutung und Organfunktionen, Leistungsbereitschaft, Aufmerksamkeit und Körperkraft, von Hormonen, Mineralstoffen und Blutzellen, bis hin zu Rhythmen auf der Ebene von Biomolekülen, der Erbinformation und Signalübertragungsvorgängen zwischen den Zellen. Die Chronobiologie im 20. Jahrhundert wurde entscheidend von zwei deutschen Forschern geprägt:

Jürgen Aschoff (1913 - 1998)








Gunther Hildebrand (1924 - 1999).






Aschoff hat vor allem die menschlichen Zirkadianrhythmen mit Isolationsexperimenten in Bunkern unter so genannten Freilaufbedingungen, d.h. ohne äußere Zeitgeber (Tag-Nacht-Wechsel, Mahlzeiten, soziale Kontakte usw.) untersucht. Hildebrand, ein anthroposophischer Forscher und Arbeitsphysiologe an der Universität Marburg, studierte zahlreiche Einzelfunktionen in allen zeitlichen Bereichen und stellte ihren ganzheitlichen Ordnungszusammenhang, der durch Synchronisation und gegenseitige Abstimmung der Rhythmen entsteht, dar. Meilensteine in der modernen Chronobiologie waren die Erforschung des Melatonins, einem Hormon der Zirbeldrüse, das bei der Koordination der zirkadianen Rhythmen eine wichtige Rolle spielt (s. u. Jetlag) und die Entdeckung eines zentralen Schrittmacherzentrums in den suprachiasmatischen Kernen (oberhalb der Sehnervenkreuzung im Gehirn) in den 1970er Jahren. Die Vorstellung eines zentralen "Uhrwerks im Kopf" wurde jedoch korrigiert durch den Nachweis zahlreicher "Uhren-Gene" in Organen und Körpergeweben, von Eigenrhythmen auf allen Ebenen, so dass sich mittlerweile ein Bild des Organismus als Zusammenklang zahlloser, aufeinander abgestimmter Rhythmen ergibt. Der Mensch schwingt -: im Ganzen wie in seinen kleinsten Bestandteilen, er ist ein schwingendes, klingendes Wesen.

Katastrophen in der Zombie-Zone Trotz des überwältigenden Erkenntnisgewinns der Rhythmusforschung hat diese neue Grundlagenwissenschaft heute noch nicht den angemessenen Stellenwert in der Alltagskultur und in der praktischen Medizin erlangt. Wie hoch der Preis sein kann, wenn biologische Rhythmen unbeachtet bleiben, zeigt beispielsweise ein Blick auf die großen Umweltkatastrophen des 20. Jahrhunderts, die durchweg durch menschliches Versagen zur Unzeit, d.h. in der Nacht bzw. den frühen Morgenstunden verursacht wurden, wo Reaktionsgeschwindigkeit, Geschicklichkeit, Denkvermögen, Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit besonders eingeschränkt sind. Spektakuläre Beispiele sind die Reaktorunfälle von "Three Miles Island" (Harrisburg 1979) und Tschernobyl 1986, die Tankerkatastrophen der „Matzukaze“ bei Seattle 1988, der „Exxon Valdez“ vor Alaska 1989 und der „Erika“ vor der Küste der Bretagne 1999. In der Chronobiologie spricht man auch von der so genannten "Zombie-Zone" in den frühen Morgenstunden. Ab 03:00 Uhr nachts, wenn die Körpertemperatur ihren Tiefpunkt durchläuft, ist die Einschlafbereitschaft am stärksten. Schichtarbeit, chronischer Jetlag bei Flugzeugpersonal, Horrorschichten und Schlafentzug bei Ärzten - die Zeitpläne in der modernen Arbeitswelt sind allenthalben inkompatibel mit der Zeitgestalt des Menschen und überfordern oft die Möglichkeiten der individuellen Anpassung und des Ausgleichs. Die globale "24/7-Gesellschaft", mit ihrer 24 Stunden am Tag und 7 Tage in der Woche brummenden Arbeitswelt und den Konsumangeboten rund um die Uhr kann uns gefangen nehmen. Das fordert seinen Preis und ruft nach sinnvoller Begrenzung, nach einer biologischen Ökonomie der Zeit. Nicht nur die "Zeitordnung" des Arbeitslebens, auch medizinische Maßnahmen, wie etwa die Gabe von Medikamenten oder die Terminierung von Operationen ließen sich optimieren. Vielfach könnten Wirksamkeiten verbessert und Nebenwirkungen vermieden werden, wenn einfache, basale Erkenntnisse umgesetzt würden und z.B. die bessere Wirksamkeit von lokalen Betäubungsmitteln beim Zahnarzt am Nachmittag oder optimale Zeitpunkte für Schmerz- und Chemotherapie auch in der Praxis mehr Berücksichtigung fänden.

Quelle: INFO 3, 2005, „Im Rhythmus liegt die Kraft“ von Frank Meyer


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