Die Bildungsphantasie goes reality!

Die Bildungsphantasie goes reality!

Vor einem Jahr habe ich einen Artikel geschrieben unter der Überschrift "Gedankenexperiment". Er enthielt viele sehr persönliche Eindrücke eines Bildungsrebellen, der ich auch nach wie vor bin - sogar stärker denn je. Heute gehe ich in die zweite Runde... Es ist der Versuch auf allen Ebenen Klartext zu sprechen. Enden möchte ich mit einem Entwurf einer agilen, proaktiven und offenen genialen Schule.

Glücklicherweise habe ich ja meinen Verstand wieder, nachdem ich ihn 30 Jahre lang sukzessive um die Ecke gebracht hatte. Nach einigen Jahren Erfahrung als Lehrperson kann ich sagen: Ich kenne diese Belastung mit dem Lehrerbashing, mit den überbordenden administrativen Aufgaben, den Zusatzfunktionen (viel Arbeit, wenig Ruhm, wenig Ehre), der Digitalisierung, dem Distanzlernen usw... und das treibt nicht nur in den Burnout, sondern macht auch nachvollziehbar, dass viele den Beruf aufgeben wollen.

Aber: Wären da nicht diese Sternstunden im Unterricht, leuchtende Augen bei Lernenden, die etwas verstehen.

Da merkt man doch mal wieder wie sinnstiftend diese Profession ist. Könnte das nicht das Ziel sein? Wäre es möglich, dies zum "new normal" zu machen? Ja! Ja! Ja! Und dazu braucht es weniger als man denkt (so zumindest meine Erfahrung). Jeder geht anders damit um, aber ich habe mich völlig befreit von Vorgaben von aussen. Ich war und bin auch in Zukunft niemand, der fremdgesteuert werden kann. Sich davon zu lösen, ist befreiend und öffnet den Weg zum erfrischenden Anders-Sein und Sich-selbst sein. Die hohe Autonomie des Lehrberufs und das autonome Handeln erlauben das. Erfolg und Wirksamkeit zeigen sich dann auch recht schnell und das gibt Erfüllung. Was im Vergleich zu der freien Wirtschaft noch fehlt ist die Möglichkeit Karriere zu machen. Oftmals wird man auf Grund des Lehrermangels an seine "kleine" Aufgabe angebunden, nämlich Unterricht zu machen. Das ist nicht genug. Jeder Mensch entwickelt sich und erweitert seine Kompetenzen. Das birgt Zündstoff und Konflikte. Lehrpersonen müssen sich weiterentwickeln können und ihre Aufgaben ändern dürfen, wenn sie es wollen. Ein System, das einen verdonnert dazu aus unerfindlichen Gründen, immer das gleiche zu machen, muss sich über Fluktuation nicht beschweren.

Schulleitungen spielen hinsichtlich der Kultur, die gelebt wird eine klare Rolle in dem ganzen Szenario Schule.

Auch hier gibt es viele Bedingungsfelder zu beackern, die die Aufgabe unnötig kompliziert machen: Beschwerden von Eltern, Vorgaben des Schulrechts umsetzen, Schule entwickeln, Leitbilder entwerfen, Organigramme erstellen, Personalplanung, Pensenplanung, Unterrichtsentwicklung, Gebäudeerweiterungen, Classroom Walkthroughs, Mitarbeitergespräche usw, usw, usw... In Uff, wie soll man das hinbekommen und das möglichst professionell? Die komplexe Aufgabe kann in auf Konformität angelegten Systemen nicht funktionieren, da kommt es sehr schnell an seine Grenzen. (An dieser Stelle darf ich sagen: Ich stehe immer im Konflikt damit, siehe oben!)

Teacher-Leadership und partizipative Führung - ein holistischer Ansatz

Als Führungspersonen treffen wir uns in dem Bedürfnis der Mitgestaltung und Wirksamkeit mit allen Lehrpersonen, Punkt. Alleine werde ich eine Schule nicht gestalten, Punkt. Die Organisation als Ganzes kann im Top Down Patronat zwar klar geführt werden, aber damit sperre ich sehr viele wertvolle Ressourcen aus. Zu einer dynamischen offenen genialen Schule gehört auch die Partizipation, der offene sachliche Diskurs und eine gemeinsame Vision. Es erfordert sehr viel Grösse und Vertrauen in das Team, dass Entwicklungsprozesse nachhaltig stimmige Ergebnisse bringen. Die Organisations-entwicklung und Schulberatung ist in einem ersten Schritt sehr hilfreich dabei. Systemisch wäre es ein Fehler als Schulleiter dies selbst zu probieren (wir können ja vieles alleine...) Der Profiblick von aussen auf das gesamte System eröffnet blinde Flecken und auch Momente der Klarheit, wo stehe ich im Führungshandeln und mit meinen Überzeugungen dem im Weg. Die wichtigste Frage aber lautet: Kennst du dein Team? Weisst du über deren wertvollen Kompetenzen wirklich Bescheid? Kennst du ihren Karriereweg und ihre Erfahrungen? Teacher-Leadership und Partizipation sind Beziehungsarbeit im professionellen Kontext. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass man auch Zeitgefässe schaffen muss (wenn man diese Umstellung angeht), in denen genau die Zeit dafür da ist, dass sich Lehrpersonen entrollen können vom Lehrer-Schüler Gespräch hin zu einem Gespräch unter erwachsenen Profis. Da muss und soll ich andocken und befreiend sein, nur so gelingt am Ende eine Transformation in der Tiefe.

Reflexionsfähigkeit ist der zweite wichtige Punkt. Dahinter steht die Frage: Wie sehr bestehe ich selbst auf der Betonung meiner Führung? Da komme ich jetzt mal mit Charlie Chaplin, denn irgendwie hat immer jemand es mal besser gesagt als ich:

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Diese Frage musste ich mir auch stellen, immer wieder, aber den Mutigen gehört die Welt! Natürlich habe ich so wie hoffentlich jeder andere auch ein Selbstverständnis im Sinne des Transports von Werten, die bei mir drinstecken und mich leiten. (Überzeugungen sind Konstrukte in diesem Kontext und Werte sind das, was ich lebe, ohne dass es mir immer bewusst ist). Führung bedeutet also auch achtsam mit sich zu sein und immer wieder zu reflektieren. Diese Werte gebe ich bewusst in das Gesamtteam ein und mache es auch transparent. Konflikte muss ich diesbezüglich nicht scheuen, denn es geht um die Sache und wir würden uns wundern darüber, wieviel uns eint und nicht trennt. So habe ich schon den kleinsten gemeinsamen Nenner. Hier beginnt eine Veränderung, die nicht nur oberflächlich ist, sondern deutlich tiefer greift. Exkurs Methode: Ich persönlich arbeite dann gerne mit einer Flut von Post-Its, Design Thinking, Sketches, Liberating Structures, Barcamps, World-Cafe-Formaten usw. Da gibt es sehr viele kreative Tools und dann lasse ich Luft zur Entwicklung. Prozesse kontrolliere ich nicht, ich steuere sie höchstens und ergänze (besser macht das ein Entwicklungsteam/Innovationsteam).

Aktuelle Tendenzen, Notwendigkeiten - Digitaler Unterricht, Fernunterricht usw.

Sicherlich stellt uns die Pandemie vor Herausforderungen der besonderen Art. Und ja, es gibt Einiges nachzubessern. Verstehen kann ich es aber nicht, dass viele sich nur mit "Meckern" zufrieden geben. Sicherlich deckt es Schwächen auf und es ist wichtig zu wissen, aber sind wir nicht eher in einer Phase, in der wir mit den bestehenden Mitteln engagiert arbeiten müssen? Digitaler Unterricht kann auch richtig cool sein, und die Lernenden sind manchmal echte Cracks, was das betrifft. Da kann man selbst auch nochmal die Schulbank drücken und von den Schülern lernen. Beziehung halten und vertiefen ist hier der Schlüssel zum Erfolg und auch wenn viele Fragezeichen dastehen für Abschlussprüfungen, warten ist der schlechteste Ratgeber. Handlungsfähig bleiben ist zielführend und die Verantwortung dafür nicht abgeben!

Was wünsche ich mir denn jetzt für eine Schule der Zukunft?

Typisch für Bildungsrebellen habe auch ich eine Vision von einer zukunftsfähigen Schule, die den Menschen und der Gesellschaft auch gerecht wird. Folgende Punkte habe ich einfach mal aufgelistet und halte mich dabei an Pippi Langstrumpfs "Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt". Es gibt noch vieles mehr...

  • offene proaktive Lernkultur auf allen (!) Ebenen
  • Creative spaces, Co-working spaces, maker spaces
  • Klassenverband ja, aber nur wo nötig
  • Methodisch vielseitig und bunt - individualisiertes Lernen
  • nachhaltige Entwicklungsmöglichkeiten für Lehrpersonen
  • regelmässiger Erfahrungsaustausch der Lehrer untereinander
  • Möglichkeiten lassen für Projekte und Teamteaching
  • so wenig Kontrolle wie möglich, ersetzt durch Steuerung
  • Verantwortung für die Kultur auch an die Lernenden abgeben, wie z.B. eine eigene Firma gründen innerhalb der Schule
  • "schlanke" Verwaltung
  • agile Prozesse - new teaching work, new leadership
  • der Raum als dritter Pädagoge (Raumgestaltung)

Genau jetzt merke ich, dass es eine sensible Zeit ist für die wichtigen Veränderungen, um Bildung zu einem Lernerlebnis und für Mitarbeiter zu einem Arbeitserlebnis zu machen. Wir haben eine begrenzte Zeit, das Wissen und Konzepte stehen uns zur Verfügung. Also hält uns nichts mehr auf, mit dem alten Muster zu brechen und Neues zu wagen. Ich persönlich möchte nie wieder sagen müssen: "Just another brick in the Wall" von Pink Floyd.

In diesem Sinne: Diskutieren wir, verändern wir, machen wir uns frei von allem, was wir jetzt nicht mehr brauchen! Ich freue mich auf eure Gedanken dazu, auf regen Austausch aus der Praxis für die Praxis. Und nie vergessen:

"Be smart. Be a rebel at heart."

(Buchempfehlungen dazu: F.Laloux "Reinventing organisations", Oesterreich/Schröder "Agile Organisationsentwicklung", Kluge/Kluge "Graswurzelinitiativen", T.Kantereit et al. "Agilität und Bildung" und Förster/Kreuz "Vergeude keine Krise")


Jörg Berger

Schulleiter Principal Rektor Schule Knonau, Geschäftsleitungsmitglied VSLCH, Vizepräsident proEdu – Bringen wir Schule gemeinsam weiter!

4 Jahre

Danke Susanne🙏 “Zu einer dynamischen offenen genialen Schule gehört auch die Partizipation, der offene sachliche Diskurs und eine gemeinsame Vision. Es erfordert sehr viel Grösse und Vertrauen in das Team, dass Entwicklungsprozesse nachhaltig stimmige Ergebnisse bringen.” Ich fühle mich so was von abgeholt mit deinem Artikel - und dann erst die pulled Points zum Schluss: herrlich😍😍😍

Yvonne Reuls

…taking a business nap 😌, celebrating silence 🙏, collecting ideas💡….always facing future 🌍✨

4 Jahre

Liebe Susanne, was für ein kraftvoller und mutiger Beitrag 👍... frei nach dem Motto „Der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung ändern können“. Kreativität im Denken führt immer an den Punkt Bedingungen schonungslos zu betrachten und aus den gewonnenen Erkenntnissen neue Visionen zu entwickeln. Vielleicht retrospektiv nicht immer „richtig“, aber wunderbar lebendig, erhellend und mitreißend.

Susanne Reuls 🎯

"Beyond only school" Schulentwicklung & Schulberatung

4 Jahre

Liebe Nina-Cathrin Strauss - vielleicht ein nicht ganz wissenschaftlicher Beitrag, aber doch das, was wir auf dem Blog andiskutiert haben. Was meinen Sie dazu? Liebe Grüsse!

Susanne Reuls 🎯

"Beyond only school" Schulentwicklung & Schulberatung

4 Jahre

Liebe Frau Kathrin Röschel, machen Sie das auch so? Viele Grüsse nach Silicon Valley (USA)!

Susanne Reuls 🎯

"Beyond only school" Schulentwicklung & Schulberatung

4 Jahre

Philipp, da bin ich gespannt, was du aus der Praxis dazu sagst 😉

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