Die leere Kristallkugel – Gedanken zum Stromkongress 2019
Auch 2019 diskutierte die schweizerische Strombranche in Bern ihre Zukunft. Bild: R.Basler / VSE

Die leere Kristallkugel – Gedanken zum Stromkongress 2019

Am 13. Schweizerischen Stromkongress gab sich die Branche ihr jährliches Stelldichein. Dabei wagte sie den Blick in die Zukunft. Nur was sie dort sah, war weniger klar als auch schon.

Die Pointe lieferte Reto Nauli, Vizepräsident von Electrosuisse, gleich zu Beginn. Als Eröffnungsredner des 13. Schweizerischen Stromkongresses sprang er für Präsident Urs Rengel ein, der krankheitshalber ausfiel. Nauli blickte in dessen Kristallkugel, die, der internen Tradition folgend, neben dem Rednerpult wartete. Und er fand sie – wenig überraschend – leer. 

Hohes Niveau, bekannte Herausforderungen

Nicht, dass die Referate und Voten im Berner Kursaal ohne Inhalt gewesen wären. Im Gegenteil. Doch die Zukunft der Branche zeigte sich so unklar wie schon im letzten Jahr. Michael Wider, Präsident des VSE, lieferte zu Beginn eine Tour d’Horizon durch die schweizerische und europäische Strombranche. Auch den nächsten Winter werde man bewältigen, meinte er mit Bezug auf die Versorgungssicherheit. 

Doch die Herausforderungen seien dringlich wie eh und je: Da ist die Digitalisierung, die, fast schon einem Naturgesetz folgend, unaufhaltsam voranschreitet – mit noch immer unklaren Auswirkungen auf das Angebot der Energieversorger. Da ist der Klimaschutz, dem sich die Branche nach wie vor verschrieben hat – zumindest in der Theorie. Immer mehr konventionelle Kraftwerke würden europaweit vom Netz genommen, derweil ein vollwertiger Ersatz noch nicht in Sicht sei. Die fortschreitende Elektrifizierung vor allem des Verkehrs verstärke dieses Problem. Dabei wäre die Nachfrage nach Strom konstant vorhanden, meinte Wider im Verweis auf europäische Länder, die wie Deutschland bereits einen liberalisierten Strommarkt kennen.

Viele Einzelszenarios, aber kein Panorama

Während draussen launisches Winterwetter über die Bundesstadt und ihr Alpenpanorama zog, erschienen drinnen die Aussichten zwar nicht wolkig, aber eben auch nicht wirklich klar. Die Einzelszenarios waren skizziert; das grosse Panorama blieb ein Fragenzeichen. Dazu passte, dass zuerst Christophe Ballif, Professor am CSEM in Neuenburg und an der EPFL, das Potenzial von PV aufzeigte und diese gerne für einen Viertel der schweizerischen Stromproduktion bis 2040 verantwortlich wüsste, während gleich im Anschluss Yves Zumwald, Direktor von Swissgrid, das bedrohliche Bild einer Schweiz zeichnete, die ihre Versorgungssicherheit mit Strom gefährdet sieht. Nicht etwa wegen des Flatterstroms aus Photovoltaik & Co, sondern wegen der zunehmenden Nicht-Integration in den EU-Strommarkt. Die Politik – genauer: das Rahmenabkommen – wirft ihre Schatten auf die Branche, da hilft auch technischer Optimismus vonseiten der Erneuerbaren nicht.

In einem Nebensatz fiel in Zumwalds Beitrag das Stichwort «De-Solidarisierung». Schweizer EVUs würden vermehrt für sich schauen statt für ein stabiles Stromangebot. Man könnte auch sagen: Anzeichen des Wettbewerbs machen sich bemerkbar. Doch die Liberalisierung blieb am Stromkongress ein abstraktes Wesen, trotz Beispiel aus Deutschland, wo auch in einem liberalisierten Markt zwei Drittel der Verbraucher ihren Energieversorger nicht gewechselt haben. Kundenorientierung (also digitale), das Image und der Preis (also die Transparenz) behielten Kunden bei ihren Anbietern, meinte Uwe Kolks, Mitglied der Geschäftsführung bei der deutschen E.ON Energie Nur eben: Jeder Dritte hat gemäss Umfragen gewechselt. Das ist nicht wenig in einem Markt der tiefen Margen.

So zogen sich die bekannten Themen in teilweise neuen Schattierungen durch den Anlass: die erneuerbaren Energien und deren wirkliche Ökobilanz (immer noch gut) und die Digitalisierung (wie gesagt: immer noch im Gang). Das inhaltliche Niveau war gewohnt hoch und der Austausch intensiv. Doch die grosse Erkenntnis blieb aus.

Digitale Kanäle, analoge Kunden

Für einen Kommunikationsdienstleister stellt sich natürlich die Frage, was dieses ambivalente Bild für die Kundenansprache bedeutet. Vor allem die Digitalisierung ist Honigtopf und Fallgrube zugleich. Denn die meisten digitalen Angebote sind, so scheint es, noch gar nicht entwickelt. Schlagwörter wie Internet of Things (IoT) oder Blockchain werden zwar immer wieder genannt – der lokale Stromkunde sieht bis jetzt jedoch nicht viel von ihnen. Dennoch erlaubt der technologische Fortschritt den Anbietern neue Positionierungsfelder in der Kommunikation – natürlich immer mit der Gefahr, sich im unbekannten Territorium zu verlieren. Doch, darin war sich die Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einig: Digitale Kanäle werden über die Zukunft der Branche mitentscheiden.

Gleichzeitig ist der Kundenkontakt analog nach wie vor sehr effizient. Anders ausgedrückt: Ein Pendant zu den Printkanälen und Sponsoring-Präsenzen, mit denen viele EVUs quasi alle Haushalte im Einzugsgebiet erreichen, ist digital noch in weiter Ferne. Ein solches aufzubauen, wird jedoch immer dringlicher. Denn wer weiss, wo die Kundin von morgen sitzt? Die Kristallkugel schweigt. Wir halten es deshalb wie die Teilnehmer: gespannt nach vorne blicken und so viel mitgestalten wie möglich.

Wieder schätzten wir den Gedankenaustausch am Schweizerischen Stromkongress: Claude Beauge (l) und Paul Drzimalla (r). Bild: R. Basler

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