Die Wüste und ihre Geheimnisse
1001 Wahrheit, Christiane Amini Teil 9 von 12

Die Wüste und ihre Geheimnisse

Ich schmunzle, als die Nachbarn uns zu sich auf das Melonenfeld einladen und mich mit Frau Ingenieur begrüßen. Es bringt wenig, sie darüber aufzuklären, dass ich keine Ingenieurin bin und mich nicht über den Titel meines Mannes definiere. Irgendwie ist es auch lustig, denn ich fühle mich weit in meine Kindheit zurückversetzt, als ich hörte, wie Omi mit Frau Bankdirektor angesprochen wurde.

Rundherum karge Wüste, und wir sitzen auf der Erde neben den Melonen und genießen die wohl beste Melone meines Lebens – rot, saftig, süß, mürbe – köstlich. Sie sind stolz auf das bisschen Wasser, das bei ihnen praktisch in die Melonen fließt. Wassermelonen sind ein wichtiges Nahrungsmittel hier. Manche Melonen sind so riesig und schwer, dass man sie nur vor sich her rollen kann.

Die Schafe hinter unserem Haus, die Natur, unser Miteinandersein, die herzlichen Menschen um uns herum, die fürsorglichen Ärzte in der Krankenstation, mit denen wir Freundschaft geschlossen haben und die sich so herzerfrischend freuen, ein persisch-deutsches Baby in der Wüste auf die Welt zu bringen, Schafsjoghurt, Melonen, Fladenbrot und manchmal Fleisch. Das Leben ist so einfach und so wunder-,wunderschön …


Wenn Mansour und Mahmud in Khash sind, stehen sie immer sehr früh auf und fahren zur Baustelle. Hamid ist ein Langschläfer und fährt später los. Was dort gebaut wird, weiß ich nicht. Es wird nicht darüber gesprochen. Ich war nur einmal da und hab ein paar Fotos gemacht. Es gab wenig zu sehen. Das Gebiet war umzäunt, und am Eingangstor lehnte ein Mann. Sein Alter ließ sich nicht schätzen. Er trug einen Bart. Seine Haut war dunkel und von der Sonne gegerbt, gekleidet in der für die Region der Belutschen typischen Art. Weite helle Hose, ein langes helles Hemd darüber und einen hellen Stoff, wie ein Turban um den Kopf gewickelt.

„Wir sind hier auf dem Land, und die Menschen denken nochmal ganz anders als die in der Stadt, die du kennengelernt hast. Sie haben keine Bildung. Sie lesen keine Zeitungen. Es sind Analphabeten. Und sie glauben alles, was die Mullahs sagen. Die Männer hier verstehen nicht, weshalb du – und dann noch als meine Frau – sie anlächelst. Das ist nicht höflich oder freundlich, das ist Anmache. Ich meine, zu deinem eigenen Wohlbefinden ist es besser, du bleibst zu Hause und kommst nicht unbedingt her. Damit du dir ungefähr vorstellen kannst, wie die hier ticken, stell dir vor, dass ein Bauarbeiter, nach dem er seinen Monatslohn bekommen hat, sich ein paar Kilo Datteln kauft und damit in die Berge verschwindet. Er wandert von Dorf zu Dorf, denn in jedem hat er mindestens eine Frau, und er kommt erst wieder, wenn das Geld verbraucht ist. Kannst dir vorstellen, dass wir die Löhne nicht alle gleichzeitig austeilen, oder? Sonst stehen wir ohne Bauarbeiter da.

Und du hast doch auch gehört, was die Ärzte gesagt haben. Bevor eine Frau überhaupt zur Behandlung kommt, dauert es oftmals viel zu lange, und dann sind Krankheiten viel zu weit fortgeschritten, um sie heilen zu können. Von Männern ganz zu schweigen. Und die ganze Familie kommt mit. Hast sie doch alle gesehen. Das waren nicht alles Patienten, die dort im Vorraum hockten. Die waren mit, um zu kontrollieren, dass der Arzt bloß keine Haut von einer Frau sieht, die er untersucht. Mit der Hygiene haben sie es auch nicht, gibt wenig Wasser. Die sind auf sich selbst gestellt, halten sich an ihre Überlieferungen und folgen irgendwelchen religiösen Schwätzern. Das ist neu für sie, sich von einem Arzt untersuchen und helfen zu lassen.

Du denkst, Teheran ist eine moderne Stadt mit modernen Häusern und moderner Versorgung, Gas, Strom, fließendem Wasser in Wasserleitungen, aus denen heißes und kaltes Wasser fließt. Ampelsystem, Verkehrszeichen, Banken und Kaufhäusern. Aber überwiegend wohnen in den Häusern noch Menschen mit der Denke vom Land wie hier, auch als Analphabeten.“

„Und dann die vielen anderen, die studiert haben, die im Ausland waren? Was für eine Mischung! Das klafft ja auseinander.“ „Man erkennt schon den Unterschied, aber manchmal eben auch nicht.“ „Ja, das kennen wir in Deutschland doch auch. Kleider machen Leute.“

„Das ist hier immer noch anders. Weißt du, der Schah will, dass Persien so modern werden soll wie Europa. Er will Bildung, Kunst und Fortschritt ins Land bringen. Konsum ankurbeln, Industrieanlagen bauen, weg vom Bauernimage. Das geht nur nicht so schnell, wie er sich es vorstellt. Und wer dagegen ist, hat schlechte Karten.“

„Wieso das?“ „Der wird vom Geheimdienst verfolgt. Und nur weil jemand studiert hat, denkt er auch noch lange nicht europäisch ‚modern‘, was auch immer das heißt. Was soll der Quatsch, modern sein nach außen hin, wenn es noch Gegenden gibt, die unerschlossen sind? Dörfer, die man nicht über Straßen erreichen kann, die noch nicht einmal fließendes Wasser haben.

Kannst du dir vorstellen, wie die leben? Wir haben dort Wasserleitungen gelegt und solange auch dort gewohnt. Und dann kommt Farah und will nach dem Rechten schauen. Das ist doch pervers. Sie im chicen Kleid mit Gefolge vom Hof. Ich habe meine Giweh* anbehalten und mich nicht für sie chic gemacht. Albernes Gehabe.“

Ich bekomme seine Wut, seine Ohnmacht, sein Unverständnis für Ungerechtigkeit mit. Ich überlege, weshalb wir mit den anderen persischen Ingenieuren selten zusammen sind. Wir treffen uns manchmal mit den Ärzten und werden auch von hiesigen Bauern eingeladen. Sie bringen dem ihnen gegenüber höhergestellten Ingenieur Ehrerbietung entgegen. Auch der junge Praktikant ist mehr mit uns zusammen als seine Kollegen, die anderen Ingenieure. Die kommen alle vom Kaspischen Meer und bleiben unter sich.


Täglich kommt Abolghasem vorbei, um zu putzen oder Besorgungen zu erledigen. Wie alt mag er wohl sein? Ein zierlicher Mann, hager und die Haut von der Sonne gegerbt. Er könnte vierzig aber auch sechzig sein. Das Putzen entspricht nicht meiner Vorstellung, und ich bin der Meinung, dass man mit einem Reisstrohbesen den Sand aus den Räumen fegen kann. Ich werde eines anderen belehrt. Was für ein Irrsinn. Der Wüstenwind haucht ununterbrochen Sandkörner, die sich überall in die Ecken legen.

Nach ein paar Wochen verlässt Abolghasem uns. Lässt sich doch nicht von einer Frau sagen, was und wie er was zu tun hat! Gholam Reza, ein kleiner Junge von vielleicht zehn Jahren, übernimmt seinen Job. Nun gut, er fegt, geht einkaufen und hilft beim Zwiebelschneiden.

Als er einmal unterwegs ist, klopft es zaghaft an das schwere Metalltor. Ich gehe hin und frage, „kije?“ Ich höre leise Stimmen und öffne zaghaft das Tor. Wie süß, mindestens zehn Kinder – größere und kleine, ich schätze, sie sind zwischen drei und acht Jahre alt, stehen da und strahlen mich mit ihren braunen, großen, schönen Augen an. Ich sehe Rotschöpfe, hennagefärbt, und vom Kamm halten sie wohl nicht viel. Aber wie wir uns begrüßen, „Salaaaam“, das ist so herzlich. „Chub hastin shoma?“ Am liebsten würde ich sie alle hereinbitten, aber kaum hat sich der Gedanke in mein Hirn geschlichen, laufen sie auch schon wieder fröhlich kichernd auf ihren Plastiklatschen davon.

Seit einigen Tagen bleiben Mansour und Mahmud weg. Die Nachricht trifft ein, dass die Baupläne falsch sind und die Baustelle geschlossen werden soll. Der benötigte Zement wird auch nicht mehr geliefert. Die Miete für das Haus wird nicht mehr übernommen, und wir sollten am besten unsere Sachen packen und zurückfliegen. Wer weiß, ob ich überhaupt im fünften Monat noch fliegen darf.

„Alle Achtung, das hast du aber gut vor mir geheim gehalten“, und ich staune nicht schlecht, als Hamid mir nun davon erzählt, dass der unter den Hügeln, tief in die Erde gebaute militärische Stützpunkt brach liegen bleibt. Einerseits sollte es ein Depot sein und andererseits Persiens Süden vor Angriffen schützen. Die Ärzte bedauern unsere Abreise, aber geben grünes Licht für den Rückflug. „Am Flughafen werden die gar nicht erkennen, dass du schwanger bist.“

Wir packen unsere Sachen, beladen einen offenen Lastwagen damit, der so die 1600 km nach Teheran fahren wird. Es sieht aus wie ein Flüchtlingstreck. Es sind doch nur Möbel. Hatte ich das nicht schon mal gehört? Jetzt sehe ich das auch so.

Um zum Flughafen zu kommen, müssen wir wieder die Strecke mit dem Chevrolet zurücklegen. Dieses Mal ohne Fahrer, nur Hamid und ich. Auch vorher gab es keine Straße, aber jetzt spüre ich jede Unebenheit auf dem Weg, und es gibt nur Unebenheiten. Hamid gibt sich Mühe, behutsam Erdlöcher weich auszufahren, doch so kommen wir morgen noch nicht an. Plötzlich, irgendwo in der Landschaft hockt ein Mensch. Aus dem Nichts heraus sitzt er da. Das ist gespenstisch.

Hamid sagt, dass wir schneller fahren müssten, es kann sein, dass wir überfallen werden. Das sind ja Aussichten. Mir graut es.


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