"Die Welt ist krank" - Sozialdemokrat Otto Braun über Diktatur und Demokratie im Jahr 1930, bald am Ende der Weimarer Republik

"Die Welt ist krank" - Sozialdemokrat Otto Braun über Diktatur und Demokratie im Jahr 1930, bald am Ende der Weimarer Republik

Die Zeitung „Sozialdemokrat“, Zentralorgan der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik, 20.12.1930, S.1, berichtet über einen Vortrag des Sozialdemokraten Otto Braun (1872-1955), 1920 bis 1932 fast durchgängig Ministerpräsident des Freistaates Preußen, der nach der Machtergreifung Hitlers ins Schweizer Exil fliehen musste.


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„Die Welt ist krank

Otto Braun über Diktatur, Demokratie und kapitalistische Anarchie.

 

Zum Unterschied von der Engherzigkeit, mit der die Radiozensur bei uns vorgeht, werden in Deutschland im Radio auf Grund einer Vereinbarung der politischen Parteien auch politische Vorträge gesendet. Dieser Tage hat nun der preußische Ministerpräsident Genosse Otto Braun auf der Deutschen Welle einen Vortrag über das Thema: „Ist die Demokratie erschüttert?" gehalten, der, obwohl für Deutschland zugschnitten, doch auch anderswo volle Beachtung verdient, weil die, in ihm enthaltenen Gedanken Allgemeingeltung haben. Otto Braun sagte unter anderem:

Das gesamte öffentliche Leben Deutschlands befindet sich in einer schweren Krise. Wie in solchen Fällen üblich, fehlt es nicht an Rezeptemachern und Kurpfuschern, die ihre einzig erfolgversprechenden Heilmethoden anpreisen. Sie sagen, die Demokratie sei schuld, wenn das deutsche Volk aus politischen Krisen und Wirtschaftsnöten nicht mehr herauskomme.

Die Leute, die dauernd über die Demokratie schelten, kommen mir immer vor etwa wie ein ungeschickter Holzfäller, der sich mit der Axt, anstatt den Baum zu treffen, in sein eigenes Bein schlägt. Er wird sehr leicht unter begreiflichem Schmerz und großer Zornaufwallung die Axt fortwerfen und in ihr den schuldigen sehen. In Wirklichkeit ist er aber selbst ungeschickt gewesen und in seiner Erregung nur nicht imstande, sich das selbst zuzugestehen. Wer eine große und schwere Arbeit verrichten will, muß eben zuerst lernen, die dazu nötigen Werkzeuge und Instrumente richtig zu handhaben. Auch die Demokratie ist für das Volk, das seine Herrscher des selbständigen politischen Denkens und Handelns und jeder Verantwortung völlig entwöhnt hatten, mit ihrem Zwang zur Selbstverantwortung und der Aufgabe der Selbstregierung ein völlig neues politisches Instrument gewesen.

Die Entwicklung hat leider den Gedanken der Demokratie bei uns zum Teil in sein Gegenteil verkehrt und den Parlamentarismus im Volke entwertet. Das Volk versteht nicht mehr den Sinn dieser endlosen Parlamentskämpfe und Verhandlungen und es zweifelt an der Möglichkeit, auf diesem Wege überhaupt weiterzukommen. Demgegenüber muß mit aller Schärfe und Deutlichkeit gesagt werden: nicht die Demokratie, nicht der Gedanke, daß ein Volk aus freier politischer Entschließung Vertreter wählt, die dann die politischen Geschicke der Gesamtheit betreuen sollen, haben versagt. Versagt hat bei uns lediglich ein erheblicher Teil der deutschen Menschen, weil er der Verantwortung, die plötzlich auf seinen Schultern lag, noch nicht gewachsen war und mit dem Parlamentarismus daher noch nichts Rechtes beginnen konnte.

Sodann aber wird systematisch am Untergange des Parlamentarismus dadurch gearbeitet, daß Männer und Parteien in das Parlament hineingehen, die geschworene Todfeinde des parlamentarischen Systems, der Selbstregierung des Volkes, sind und deshalb um jeden Preis die Verhandlungen des Parlaments durch ihr Verhalten in den Augen des Volkes diskreditieren wollen... Nur durch eine, jede einseitige Interessenpolitik von sich weisende und den grundsätzlichen und demagogischen Widerstand der antiparlamentarischen Opposition hinwegfegende entschlossene Regierungspolitik kann die Reichsregierung heute das große Erbe des deutschen Volkes vor dem Verfall schützen und uns vor dem Aeußersten bewahren. Nur so vereiteln wir die Taktik der antiparlamentarischen Gruppen, erst die Arbeit des Parlaments lahmzulegen und dann hohnlachend in alle Welt hinauszuschreien: „Seht doch, das Parlament versagt; das ist das Ende des parlamentarischen Regimes, nur der Diktator kann uns retten!"

Nein, kein Diktator kann uns retten. Wir selbst müssen uns helfen, indem wir die Scheu vor der Verantwortlichkeit bei uns allen und bei den Parteien vor allem bekämpfen, die sich verantwortungsbewußter Mitarbeit versagen. Es ist natürlich viel leichter, dem Volke zu erklären, daß man keine neuen Steuern brauche, damit das Reich sich finanziell leistungsfähig erhalten kann; man solle nur die Tributlastenzahlungen einstellen und alles sei gut. Wer den Massen so etwas sagt, hat bei ihrer Not und bei ihrem begreiflichen Zorn gegen unsere finanzielle Blutleermachung durch das Ausland naturgemäß ihr Ohr. Weit schwerer ist es, vernünftig und ruhig zu sagen, daß das so mit Gewalt nicht angeht.

Würfe Deutschland sich heute in einem Irrsinnstaumel einem Diktator etwa von der Art des Herrn Hitler in die Arme, was wäre damit gewonnen? […]“





Markus Paulini

User-centered Innovation, Strategic Experience Design

1 Monat

... sie ist immer noch krank...

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