Dr. Matthias Marwege über die agile Transformation in seinem Bereich

Dr. Matthias Marwege über die agile Transformation in seinem Bereich

Ein erfolgreicher Geschäftsbereich in einem traditionsreichen Rückversicherungskonzern stellt auf agiles Arbeiten um – klingt gewagt? Dr.Matthias Marwege erzählt im Gespräch mit Sarah Stephany, JANUS, wie er diese spannende „Journey“ mit seinem Bereich in Angriff genommen hat und teilt seine Learnings mit uns.

Lieber Herr Marwege, zu Beginn die Frage: Wofür steht Ihr Bereich innerhalb der Münchner Rück, wofür sind Sie zuständig?

Wir verantworten das „non-life“ Rückversicherungsgeschäft in der Region Spanien, Portugal, Lateinamerika & Karibik. Ein wichtiger inhaltlicher Schwerpunkt ist die Übernahme von Risiken aufgrund von Naturkatastrophen, also z.B. Hurrikane und Erdbeben. Wir bearbeiten die Region mit ca. 250 Mitarbeitenden in München, Madrid, Mexico City, Bogotá, Sao Paulo und Buenos Aires. In vielen dieser Märkte sind wir aktuell Marktführer.

Jetzt weiß ich von Ihnen, dass Sie vor 2,5 Jahren begonnen haben, die gewohnten Prinzipien der Zusammenarbeit in Ihrem Bereich zu hinterfragen und einen ganz neuen Weg einzuschlagen. Was ist damals passiert?

Den Ausschlag gab ein Strategiemeeting Anfang 2020. Wir haben zum Ende der Veranstaltung Mitarbeiterfeedback eingeholt und drei sehr eindeutige Rückmeldungen bekommen: Die Mitarbeitenden haben uns zu verstehen gegeben, dass sie mehr Klarheit brauchen in Bezug auf die geschäftlichen Ziele. Dass sie sich mehr Autonomie wünschen, in der Art und Weise wie sie das Geschäft betreiben. Und, dass wir in den einzelnen Ländern trotz prinzipiell guter Zusammenarbeit zu sehr in Silos arbeiten.

Gab es da auch einen externen Druck im Markt für Sie, eine Veränderung anzustoßen?

Das ist eine spannende Frage – denn nein, wir waren und sind geschäftlich extrem erfolgreich. Der Auslöser für die Veränderung lag also nicht in einem Defizit. Das ist natürlich eine komfortablere Ausgangslage, als wenn ich mitten auf der „burning platform“ stehe und handeln muss.

Waren denn da gleich alle KollegInnen überzeugt, dass etwas getan werden muss, auch ohne „sense of urgency“?  

Ja, absolut, uns war sofort klar, dass wir diese sehr konkreten Rückmeldungen ernst nehmen wollen. Es ist für mich selbstverständlich, in den Dialog zu gehen und zu überlegen, wie wir die Zusammenarbeit besser gestalten können. Das aus einer Position der Stärke zu tun, halte ich für sehr kraftvoll. Der Anspruch, unsere Ambition weiterzuentwickeln ist ein starker Motivator. Wir mussten nicht – wir wollten.

Und wie hat sich dann abgezeichnet in welche Richtung die Veränderung geht?

Das war ein Prozess und der wurde leider erstmal jäh von der Pandemie unterbrochen. Nach dem ersten Krisenmanagement haben wir ihn aber im Sommer 2020 wieder aufgenommen. In einer hierarchie- und funktionsübergreifenden Arbeitsgruppe haben wir uns überlegt: Was machen wir jetzt mit dem Feedback? Was wäre der Gegenentwurf zu der Kritik? Was könnten Lösungsansätze sein? Wir haben auch viele Gespräche geführt mit anderen Bereichen im Unternehmen, die vor ähnlichen Herausforderungen standen wie wir. Unser Ziel war immer: Wie können wir unsere Organisation weiter verbessern, um geschäftlich auch in Zukunft erfolgreich zu bleiben? Wir sind dann bei der Erkenntnis gelandet, dass eine Entwicklung in Richtung agiles Mindset und agile Methoden vermutlich am ehesten für uns passen würde.

Wie sind Sie konkret gestartet?

Wir haben einen externen Berater hinzugezogen, der auf agile Transformation spezialisiert ist. Gestartet sind wir in einem Kick-Off mitten in der Pandemie, im Herbst 2020, unter sehr widrigen Umständen. Aber die Krise bot auch eine Chance: Wir konnten nicht mehr reisen und das hat die Terminkoordination im Management Team plötzlich sehr erleichtert .Die Erfahrung mit den virtuellen Workshops war extrem positiv – die lokalen Grenzen sind noch mehr verschwommen. Es war plötzlich wirklich egal, ob der Kollege im gleichen Stadtviertel in München im Homeoffice saß oder in Bogotá. Das war wie eine Bewusstseinserweiterung – die lokale Brille war außer Kraft gesetzt, und wir haben die Gelegenheit, die auch in der Krise lag, für uns genutzt!

Wie sahen die ersten Umsetzungsschritte aus?

Wir haben erstmal ein Assessment durchgeführt, um zu schauen: Wo stehen wir denn aktuell? Wie ist unser Status Quo? Wir haben wieder hierarchieübergreifend unsere ersten Eindrücke vertieft und überprüft. Was sind die Herausforderungen? Dann haben sich Themenschwerpunkte herausgebildet und die Bearbeitung haben wir in kleinere Gruppen verlagert.

Wir haben als Management Board, da sind wir zu sechst, ein Kernteam gebildet. und erkannt: Wenn wir wirklich Themen treiben wollen, müssen wir mehr Zeit investieren. Ab da trafen wir uns wöchentlich und haben an Strategie-, Geschäfts- und Personalentwicklung gearbeitet.

In dem Zusammenhang haben sich wichtige Formate etabliert, können Sie uns dazu etwas sagen?

Ein ganz wichtiges Format, das wir eingeführt haben, sind unsere Quarterly Business Reviews, im erweiterten Management Team und mit der Beteiligung von Mitarbeitenden aus der gesamten Region.

Und auch sehr wichtig ist unser Transformation Team, das aus Mitarbeitenden der unterschiedlichen Standorte besteht und u.a. dafür verantwortlich ist, die Quaterly Business Reviews vor- und nachzubereiten. Dieses Team treibt den Prozess super mit und ist sehr eng mit den Mitarbeitenden an allen Standorten vernetzt. Wir haben zudem für den agilen Veränderungsprozess einen Product Owner, der direkt an mich berichtet. Wir planen Meilensteine über das Jahr hinweg, aber nicht mehr starr, sondern eher kurzfristig und flexibel entlang der agilen Prinzipien.

Nicht mehr starr, agile Prinzipien – was genau meinen Sie damit?

Eines der wichtigen Prinzipien für uns ist „starting by starting“ – wir versuchen nicht mehr, das letzte I-Tüpfelchen im Vorhinein zu klären. Das ist ein echter Paradigmenwechsel, weil wir stark aus der Risikoperspektive getrieben sind und am liebsten keine Fehler machen wollen. Heute setzen wir uns einen Rahmen und probieren viel mehr aus.

Was sind aus Ihrer Sicht denn weitere wichtige Errungenschaften durch die Umstellung der Arbeitsweise?

Ganz sicher gehört dazu die Etablierung einer Lernkultur im Sinne des Growth Mindset. Wir lassen uns mehr darauf ein, Dinge auszuprobieren, zu experimentieren und zu lernen.

Eine große Errungenschaft ist auch das Denken in kürzeren Zyklen, eher in Quartalen. Das ist in unserer Branche nämlich so nicht angelegt, unser Geschäftsmodell tickt eher langfristig. Aber wir haben durch die agilen Methoden deutlich an Fahrt aufgenommen, wir sind schneller geworden und können schneller in die Kommunikation mit den Mitarbeitenden einsteigen.

Wir kommunizieren sicher auch viel breiter - im Anschluss an jedes Quarterly Business Review veranstalten wir Town-Hall-Meetings und informieren die Mitarbeitenden zu 100% über unsere Entscheidungen. Die Informationssilos haben wir wirklich aufgebrochen. Das schätzen die KollegInnen sehr, so haben sie uns das zumindest in einer kürzlich durchgeführten Befragung zurückgespiegelt.

Und sicher auch noch wesentlich: Wir haben in der Strategie für mehr Klarheit gesorgt. Haben definiert: Was gehört zum „playing field“, was liegt außerhalb? Was sind unsere Fokusthemen? Dadurch haben wir heute eine viel höhere Stringenz erreicht im Vergleich zu vor 2 Jahren.

Woran haben Sie denn gemerkt, dass sich wirklich Dinge fundamental verändert haben?

Ganz spürbar wird das in meinen Augen in unseren Quarterly Business Reviews. Diese führen wir hierarchie-übergreifend durch, alle Führungskräfte sind vertreten und einige Mitarbeitende. Themen werden über Product Owner eingebracht. Und wir treffen unsere Entscheidungen mit einem Abstimmungsverfahren statt über eine hierarchische Delegation. Ein wichtiges Prinzip sind die „fundamental objections“ – wir berücksichtigen Widerstandsabfragen, um sicherzustellen, dass jedes Problem erkannt und bearbeitet wird. Ein Mitarbeiter, der beim letzten QBR erstmals teilgenommen hat, meldete mir zurück, dass aus seiner Sicht in der Debatte nicht mehr erkennbar war, wer aus welcher Führungsebene spricht, sondern dass vielmehr jede Stimme zu Wort kommt und zählt. Das halte ich für eine sehr positive Entwicklung. Wir schaffen es so, unser kreatives Potenzial stärker auszuschöpfen und auch mit schwierigen Themen gut umzugehen – in einer ganz neuen Offenheit.

Und – zweiter Punkt - wir arbeiten sehr rollenbasiert und denken stärker in work packages. Die KollegInnen, die ein Thema einbringen, arbeiten ganz autonom. Wir bereiten zwar die Agenda vor, die Vorschläge kommen aber aus dem Transformation Team, die wiederum zu den wichtigen Themen sehr stark im Unternehmen vernetzt sind.

Was können Sie sich nicht mehr wegdenken?

Ganz zentral ist die Verbesserung der Entscheidungsfindung und die damit verbundenen offenen Debatten, die geführt werden. Das zu lösende Problem im Kern konkret zu beschreiben und herauszukristallisieren, um was es wirklich geht - da ringen wir intensiv miteinander und haben wirklich viel dazugelernt. Das Commitment, auch Entscheidungen vollumfänglich mitzutragen, zu denen es unterschiedliche Argumente und Positionen gab, hat dadurch deutlich zugenommen.

Was würden denn die Mitarbeitenden vom Strategiemeeting 2020 sagen, was sich bis jetzt verbessert hat?

Der größte Teil würde sagen: Wir verstehen besser, wohin wir wollen und warum wir die Veränderung angestoßen haben. In der Zusammenarbeit ist mehr Nähe, der Austausch ist leichter, auch über die Büros und Grenzen hinweg.

Ich durfte Sie letztes Jahr mit Ihrem Management Team in einem Workshop mit dem Fokus auf Stärkenorientierung begleiten. Wieso war Ihnen das so wichtig, dieses Thema im Rahmen der agilen Journey mit Ihren KollegInnen aufzubohren?

Das war wirklich eine super interessante Erfahrung. Der Kern für mich war, die Unterschiedlichkeit aller als Stärke zu sehen. Die Unterschiedlichkeit der Perspektiven und Stärken kann ein Team in Summe viel stärker machen – auch wenn es manchmal anstrengender ist. Und wir nutzen das Wissen über die Bedeutung von Unterschiedlichkeit jetzt sehr stark in der Besetzung von Teams. Ich empfinde es so, dass wir einen faireren Umgang miteinander haben und toleranter miteinander umgehen. Und das hilft und stärkt uns insgesamt in der Transformation.

Vielen Dank Herr Dr. Marwege für die spannenden Einblicke und das Teilen Ihres Reiseberichtes :-)

👨🏻💻 Markus Metz

Veränderungsmanager #Veränderung #Change #Lernen

2 Jahre

Das Geschilderte würde jetzt auch nicht jeder als agile Transformation beschreiben… 🤷🏻♂️

Tine Gasser

Gesellschafterin bei der Janus GmbH & Co. KG

2 Jahre

In der Zusammenarbeit ist mehr Nähe, der Austausch ist leichter, auch über die Büros und Grenzen hinweg. - Was für eine schöne Aussage! Vielen Dank für diesen kurzweiligen "Reisebericht", ich bin beindruckt, was Ihnen von "Bayern bis Bogota" gelungen ist.

Claudia Wabel

Support people and organizations in making transformation powerful and effective.

2 Jahre

Was für eine beeindruckende Reise, ich finde das Interview sehr gehaltvoll. Und ehrlich Danke

Carsten Schäper 🔸

no slogan | 🔸10% Pledger #7338

2 Jahre

Schönes und gehaltvolles Interview, danke! U. a. interessant: Bewusstseinserweiterung durch Online-Meetings 😀

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