Ein Bild merkt, wenn es betrachtet wird
Der Kunstgenuss kam in den letzten zwei Jahren ohne Frage zu kurz. Umso größer war die Freude, als wir uns auf den Weg nach Frankfurt machten, um im Städelmuseum die gerade gestartete Ausstellung „Renoir. Rococo Revival“ zu besuchen. Ebenso groß wie die Freude war am Ende die Ernüchterung. Wobei das nicht richtig ist: Die Ernüchterung kam nicht am Ende. Sie zeigte sich bereits wenige Minuten, nachdem ich die Räume der Renoir-Ausstellung betreten hatte. Viele Menschen bahnten sich ihren Weg von Gemälde zu Gemälde. Dabei standen die Bilder als solche gar nicht in ihrem Fokus. Viel wichtiger schien es zu sein, ein Foto vom Original zu schießen. Und so kam es, dass ich in den wenigen Minuten, die ich in der Ausstellung war, andauernd das Gefühl hatte, im Weg zu stehen und Fotos zu verhindern. Ich beobachtete, dass die Fotografierenden nach der Aufnahme das Foto und dessen Qualität betrachteten statt des Originals, das wenige Zentimeter entfernt vor ihnen hing. Wurde es für gut befunden, ging es zum nächsten Gemälde. Und erneut: Foto schießen, Foto prüfen, weiter zum nächsten Gemälde.
Ein Bild merkt, wenn es betrachtet wird: Der Titel dieses Neonfishs ist dem Roman „Der Turm der blauen Pferde“ entnommen. Eine Figur in diesem ist Ludwig Raithmaier, der das Lenbachhaus in München besucht, um Franz Marcs Gemälde „Blaues Pferd 1“ zu betrachten. Die Museums-führerin darauf angesprochen, wie lange sie das Gemälde angesehen hat, antwortet, sie habe dies sicher schon fünfzigmal angeschaut. Nicht wie oft, sondern wie lange, hakt Raithmaier nach. In Monaten und Jahren. Mit Herzklopfen? Mit trockenen Lippen? Er schlussfolgert, dass ein Bild merke, wenn es betrachtet wird. Und dann beginne es zu zeigen, was in ihm sei und es beginne zu sprechen. Renoirs Gemälde im Städelmuseum erhielten nicht die Gelegenheit, sich zu zeigen und zu den Besuchenden zu sprechen.
Aber nicht nur das Fotografieren und mein Im-Weg-Stehen störten mich. Es waren auch die vielen Texttafeln, die mein Gefühl der Orientierungslosigkeit unterstützten: Lese ich die Texte? Schaue ich mir die Bilder an? Und erneut: Wo störe ich andere am wenigsten beim Fotografieren? Denn die Texte wurden ebenfalls fotografiert. Von alledem ging eine große Unruhe aus und von Kunstgenuss bei mir nach wie vor keine Spur. All diese Ernüchterungen ließen mich die Renoir-Räume nicht einmal zehn Minuten nach deren Betreten verlassen. Mir kam der Film „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ in den Sinn: In einer Szene fragt Mitty den Fotografen Sean O’Connell, wann er auf den Auslöser drücken würde – immerhin habe er endlich den Schneeleoparden vor der Linse, auf den er so lange in 5000 Metern Höhe im Hindukusch gewartet hat. Andächtig antwortet O’Connell:
„Manchmal gar nicht. Wenn mir ein Moment gefällt – ich meine: mir persönlich, dann will ich nicht, dass mich die Kamera irgendwie ablenkt. Dann will ich einfach nur darin verweilen… darin verweilen… ja, so wie gerade. Hier und jetzt.“
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Was wird aus Kultureinrichtungen und Kulturmanagement, wenn immer seltener das Kunstwerk als solches gesehen und gehört wird und sich technische und digitale Möglichkeiten weiter durchsetzen? Spannend ist immerhin, dass das Städelmuseum auf seiner Website damit wirbt, dass kostenloses WiFi im Museum zur Verfügung stünde. So könne der Museumsbesuch durch digitale Angebote bereichert werden. Schon seltsam: Nun stehe ich endlich im Museum vor Originalgemälden und werde dennoch verleitet, über QR-Codes und Apps in die digitale Welt zu wechseln.
„Anstatt einen direkten und natürlichen Kontakt mit der Kunst zu suchen, erfindet man heute neue Schwierigkeiten und Hindernisse, um sie zwischen das Werk und den Betrachter zu stellen.“
So schrieb Wassily Kandinsky im Jahr 1936 über das Besuchsverhalten. Ohne Frage waren es bei ihm politische Gedanken, die als Hindernisse hineindrängten. Dennoch wird der direkte und natürliche Kontakt, den er vermisst, auch heutzutage auf vielfache Weise verhindert. Gerade als Kulturmanager wünsche ich mir mehr Einfallsreichtum, um mit der Kunst in Kontakt zu treten. Notwendig dazu wäre eine differenziertere Betrachtung der unterschiedlichen Rezeptionsarten und Bedürfnisse, die die Menschen bei ihrem Museumsbesuch antreiben: Mal ist es das Bedürfnis nach Unterhaltung, mal nach Wissensvermittlung; mal ist es der Wunsch, emotional angesprochen zu werden, mal der, dem Werk kontemplativ zu begegnen. Zu beobachten ist, dass die notwendige Differenzierung in Angeboten und Zielgruppen noch nicht ausreichend an den Tag gelegt wird und verstärkt auf multimodale Möglichkeiten gesetzt wird. Besuchende, die darauf warten, dass die Bilder zu ihnen sprechen, scheinen übersehen zu werden. Handyfreie Zeiten und Tage würden ein differenziertes Angebot ausmachen – und eben keine Multimodalität, auch wenn diese in der Zukunft die Regel sein solle, so der eine oder andere Museumsratgeber: Besuchende, die die Originale direkt auf sich wirken lassen wollen, würden dies in Ruhe tun können. An anderen Tagen könnten Besuchende, denen das Fotografieren von Werken wichtig ist, ebenfalls ungestört auf ihre Weise durch die Ausstellung gehen. Auch die Möglichkeit, die Ludwig Wittgenstein seinerzeit empfahl, würde das Angebot ausdifferenzieren: Er sprach davon, ins Museum zu gehen und lediglich ein einziges Kunstwerk zu betrachten. Getreu dem Motto „Weniger ist mehr“ könnten Museen gezielt Rundgänge mit wenigen Kunstwerken anbieten. Wenige Werke, mehr Entdeckungen – und die Studien, die belegen, dass die Betrachtungsdauer von Kunstwerken bei nur wenigen Sekunden läge, müssten bei einem solchem Angebot neu durchgeführt werden. Oder wie wäre es, auch mal kleinere Ausstellungen zu konzipieren, um der Wittgensteinschen Idee weiter zu folgen? Die Gegenargumente sind schon zu hören: Kleinere Ausstellungen sind keine Blockbuster und führen zu geringeren Besuchszahlen. Und weniger Besuche sind kulturpolitisch nicht wünschenswert und festigen nicht die gesellschaftliche Legitimation. Das ist jedoch nur vordergründig verständlich. Denn bei allem geht es schließlich auch um die Kunst und ihre Werke. Die jedoch scheinen aktuell eher eine Nebenrolle zu spielen.
Wie ging es nun weiter mit unserem Museumsbesuch? Statt zu versuchen, in den Renoir-Räumen die Originale betrachten zu können, gingen wir zu den Alten Meistern. Hier waren wir nahezu die einzigen Menschen, konnten ungestört Triptychen und Gemälde ansehen und freuten uns über einen direkten Kunstgenuss, bei dem es viel zu entdecken gab. In Ruhe. Ohne Ablenkung. Im Hier und Jetzt.