Eine Jahrhundertchance für Bregenz

Eine Jahrhundertchance für Bregenz

In einem breitest möglichen Schulterschluss der Initiative "See und Stadt und Bregenz" mit der Ziviltechniker:innen Kammer der Architekt:innen und Bauingenieur:innen für Tirol und Vorarlberg, der Zentralvereinigung der Architekt:innen Vorarlberg (ZV) und dem Vorarlberger Architekturinstitut (VAI) wurde dem eingeschlagenen Weg zur Bregenzer Stadtentwicklung der Zuspruch und den verantwortlichen Planenden sowie der Bauverwaltung das fachliche Vertrauen ausgesprochen.

Am 01. Juli 2023 feiert die Stadt Bregenz ihr 100-jähriges Jubiläum als Landeshauptstadt. Parallel zu diesem Jubiläum tut sich auch eine Jahrhundertchance auf. In den kommenden Tagen wird die Weiterentwicklung von „Bregenz Mitte“, jenem Areal zwischen Bahnhof und See, diskutiert. Nachfolgend die Stellungnahme des oben genannten breiten Zusammenschlusses an baukulturellen Vertretungen.


Die Gelegenheit nutzen

Als window of opportunity wird ein kurzer, flüchtiger Zeitraum bezeichnet, der Gelegenheit bietet, Anliegen von großem öffentlichem Interesse mit breiter Zustimmung einer Lösung zuzuführen. Typisch für schwerwiegende, „verfahrene“ Problemlagen ist, dass jede Generation meist nur über ein einziges solches „Fenster“ verfügt. Sobald sich ein window of opportunity auftut, ist es also als „unwiederbringliche“ Gelegenheit zu behandeln.

Die Bregenzer Stadtentwicklung rund um den Bahnhof mit ihrer jahrzehntealten Suche nach einer konsenstauglichen Lösung stellt eine denkbar schwerwiegende Problemlage dar. Die Möglichkeit, die innerstädtische Brache ehemaliger Bahnflächen in Sichtweite zu einer der schönsten Uferlagen Europas – jede und jeder hat hier Zugang zum täglichen Wunder eines Sonnenuntergangs über dem Wasserhorizont – städtebaulich neu zu ordnen und damit aber auch auf Jahrzehnte hinaus zu fixieren, ist für die Planungsansätze der letzten 30 Jahre zur unlösbaren Aufgabe geworden.

Fast wäre 2016 mit dem Seestadt-Projekt eine der letzten unzeitgemäßen „Malls“ hier vor Anker gegangen. Mitten in der Schlussphase der Baugenehmigung trat die Initiative See-und-Stadt-und-Bregenz auf den Plan und wies in Stadtspaziergängen, Vorträgen internationaler Stadtplaner:innen, einem 10-Punkte-Programm der Stadtentwicklung, in Presse und Medien auf den irreparablen Schaden hin, der dem öffentlichen Raum der Landeshauptstadt mit dem Bau der Seestadt drohte.

Noch 2020 waren zwar die monolithische „Seestadt“ vor und das ähnlich sperrige „Seequartier“ hinter einem geplanten Bahnhofsneubau beiderseits der S-gekurvten Landesstraße planungsrechtlich aktuell, parallel dazu hatte aber eine Abfolge alternativer Denkansätze zu einem dynamischen Prozess geführt. Die Protagonisten eint die Überzeugung einer Jahrhundertchance für Bregenz und die Bereitschaft, sich allein aus Begeisterung und bürgerschaftlicher Verantwortung für das Gelingen einzusetzen. Ein singulärer Vorgang, dessen Einzelschritte als Chronik des heutigen Entwurfsstandes hier kurz Revue passieren sollen.

Bereits in der Veranstaltungsreihe der „Stadtimpulse“ 2017 waren alternative Bahnhofskonzepte vorgestellt worden, die als Studentenprojekte der Universität Liechtenstein entstanden waren.

Roland Gnaiger hatte an der Kunstuniversität Linz ebenfalls den Bregenzer Bahnhof als Entwurfsaufgabe ausgegeben. Die bahnparallel geführte Landesstraße, also die Eliminierung der „S-Kurve“, war diesen Entwürfen zugrunde gelegt. Die Idee erlaubte, mit der Gleiserschließung gleichzeitig die Landesstraße unter oder oberirdisch zu queren und damit Stadt und Bahnhof direkt zu verbinden. Mit der Präsentation des „Bahnhofsprojekts Gnaiger“ vor der Stadtvertretung verfestigte sich dieses Konzept als Ausgangspunkt einer zukünftigen städtebaulichen Neuordnung.

Andreas Stickel, Christoph Gillhaus und Christopher Schneeweiß erweiterten in ihrer „Urbanen Vision Bregenz“ den Betrachtungsperimeter um den Festspielbezirk und stellten das Bild eines „Bregenz am See“ vor:

Ermöglicht durch eine gedachte Unterflurtrasse von Bahn und Landesstraße konnte die gesamte städtebauliche Leerstelle zwischen Innenstadt und Vorkloster, zudem auch Festspielbezirk, Casino- und Stadionumfeld jenseits der Bahntrasse als zusammenhängende Stadtfläche neu gedacht werden, die mit einem attraktiven „Stadtstrand“ am See einen prägnanten Zielpunkt erhielt.

Im Kommunalwahlkampf verband Michael Ritsch sein Programm mit diesem Entwurf, versprach die Umsetzung und gewann das Bürgermeisteramt.

Die neue politische Führung der Landeshauptstadt erteilte im Anschluss der eigens gegründeten „Arbeitsgruppe Bregenz Mitte“ (Andreas Stickel, Dietmar Eberle, Christopher Schneeweiß, Christoph Gillhaus, Roland Gnaiger, Markus Flatz und Erich Steinmeyer) den Auftrag einer Konkretisierung. Die Gruppe arbeitete ehrenamtlich und integrierte die Denkansätze zu einem „Masterplan Bregenz Mitte“. Die Gemeindevertretung beschloss mit großer Mehrheit (nur eine Gegenstimme), diesen Masterplan weiterzuverfolgen, die Arbeitsgruppe Bregenz Mitte übergab dem Stadtplanungsamt als zuständiger städtischer Behörde die Weiterbearbeitung.

Was bisher nicht hinterfragbar schien, ist seither offensichtlich: Das tägliche Ärgernis eines Bahnhofs jenseits einer fünfspurig ausgebauten Landesstraße, eine bessere Verknüpfung der Stadtviertel untereinander, der Innenstadt mit dem Quellenviertel, Vorkloster und Festspielbezirk, eine Lösung zur besseren Querung von Landesstraße und Bahntrasse Richtung See und insgesamt eine bessere Integration des Verkehrs sind die Kernfragen, die in einer großmaßstäblichen und alle Planungssparten vernetzenden städtebaulichen Neuordnung zu beantworten sind.

2021 initiierte das Bregenzer Stadtplanungsamt Prüfungen, die sich sowohl der Unterflurvariante der Bahntrasse seitens der ÖBB als auch einer unterirdischen Führung der Landesstraße widmeten. Das Ergebnis der Straßenprüfung ist, dass sowohl die unterirdische Führung als auch die Parallelführung entlang der Bahntrasse technisch durchführbar sind.

2022 startete sowohl der Bau eines Bahnhofsprovisoriums auf Basis der bestehenden Hypo-Unterführung, das den Bahnhofsneubau ermöglicht, als auch ein städtebaulicher Wettbewerb mit Einbindung der Bevölkerung. Dieser stellte die Aufgabe, das nunmehr allgemein als „Bregenz Mitte“ bezeichnete Areal in einem städtebaulichen Entwurf zu beplanen. In der Aufgabenstellung war ausdrücklich die alternative Betrachtung von unterirdischer und oberirdischer Landesstraßentrasse formuliert. Alle vier beteiligten Teams sprachen sich in ihren Entwürfen einhellig für eine oberirdische Führung aus.

Im Frühjahr 2023 liegt nun das Wettbewerbsergebnis vor. Das Siegerteam besteht aus einem Team von Architekt:innen, Landschaftsarchitekt:innen und Verkehrsplaner:innen: Vlai Streeruwitz, Bauchplan und consens.

Um zum Anfang zurückzukehren: Das „Fenster“ bietet eine unwiederbringliche Chance. Alle Beteiligten, darunter die ÖBB und die Verkehrsbehörde des Landes, die Investoren als Grundstückseigner:innen und die städtischen Planungsbehörden sitzen gegenwärtig in zielorientierter Gesprächsatmosphäre an einem gemeinsamen Tisch. Wenn es dieser Runde gelingt, Baurecht und Genehmigungsgrundlagen zu schaffen, wird das Baufeld „Bregenz Mitte“ über zwei Jahrzehnte milliardenschwere Investitionen anziehen, die nicht nur Hochbauprojekte schaffen, sondern imstande sein werden, auch die öffentliche Verkehrsinfrastruktur zeitgemäß neu zu ordnen.

Ähnlich einer erfolgreichen Olympiabewerbung, vergleichbar dem „Bilbao-Effekt“, kann „Bregenz Mitte“ in einen nachhaltigen Nutzen für alle münden. Weil Gemeingüter im Spiel sind, benötigt der Prozess ausführliche und schrittweise Information und Vermittlung, Abstimmung und Einbezug der Öffentlichkeit. Weil Investitionen Vertrauen erfordern, bedürfen der Prozess und die Planer:innen in besonderem Maß der ausdrücklichen und parteiübergreifenden Unterstützung durch die politischen Mandatsträger:innen.

Gemeinsam erzeugen solche Vertrauensbekundungen schließlich eine breite öffentliche Zustimmung. Denn bevor das Ergebnis allen zugutekommt, muss auch der lange Weg dorthin, die zehn, zwanzig Jahre an Provisorien und Baustellen im Herzen der Landeshauptstadt, von allen getragen, ertragen und akzeptiert werden.

Wir sprechen dem Planer:innenteam und den Verantwortlichen der Bregenzer Bauverwaltung unser fachliches Vertrauen aus und bescheinigen dem Entwurf Solidität, Robustheit und herausragende Qualität: ein „großer Wurf“, der Wert ist, umgesetzt zu werden.

Vor allem aber appellieren wir an die Verantwortung der politischen Mandatsträger:innen, die Gelegenheit zu nutzen:

- Schaffen Sie gute Rahmenbedingungen für die Arbeit der Planer:innen

- Halten Sie parteipolitisch motivierte Partikularinteresse vom Planungsprozess fern

- Demonstrieren Sie Ihr Vertrauen in die Planer:innen auch in der Öffentlichkeit, damit der „Jahrhundertumbau“ der Landeshauptstadt auf breiter Basis mitgetragen, als gemeinwohlorientierter Prozess vermittelt und am Ende als Gemeinschaftsleistung erlebt werden kann.





Harald F. Künzle

CEO Geschäftsführer - reiter design gmbh

1 Jahr

Bravo Matthias 👏

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