Eine Medaille, zwei Seiten
Die geopolitische und humanitäre Katastrophe, die sich in Europas Osten abspielt, rüttelt uns auf. Sie wird weitreichende Folgen haben – auch für die Energieversorgung.
Unsere Energiezukunft auf einheimische erneuerbare Energien und eine solide Kooperation in Europa zu bauen, wird nun umso dringlicher. Bundesrat und Parlament sind schon an der Arbeit. Dabei droht jedoch ein entscheidendes Element wieder einmal durch die Maschen zu fallen. Die Produktion ist nämlich für eine sichere Energieversorgung nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist das Stromnetz: Ohne Netz kein Stromtransport vom Kraftwerk zu den Verbrauchszentren, keine Solidarität mit oder aus Europa, auch kein lokaler Stromverbrauch, und schon gar keine Elektrifizierung.
Das Netz muss mit der Entwicklung der zentralen und dezentralen Produktion und Speicher mithalten können, wie auch mit der Veränderung des Verbrauchs durch Wärmepumpen und E-Autos. Das über die letzten 150 Jahre gewachsene Netz ist das Fundament. Doch es kann nicht einfach als gegeben angesehen werden: Es muss ständig gehegt und gepflegt und an die neuen Erfordernisse herangeführt werden. Dafür muss es ausgebaut und modernisiert werden, auch mit den neuen digitalen Möglichkeiten.
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Im Schnitt wenden die Netzbetreiber jährlich etwa 1,2 Milliarden Franken auf, um das Netz in Schuss zu halten. Das wohlgemerkt noch vor dem grossen Umbau für die Dekarbonisierung. Künftig wird der Investitionsbedarf in das Netz daher stark ansteigen. Um diesen zu stemmen, braucht es verlässliche Regeln und einen stabilen Ertrag aus dem auf lange Zeit gebundenen Kapital. Ein Kahlschlag bei der Kapitalverzinsung – eine abwegige Idee, die gerade jüngst wieder aufpoppte – wäre verantwortungslos und käme einer Bankrotterklärung unserer Energie- und Klimaziele gleich. Gut, hat der Bundesrat unlängst mindestens für das nächste Jahr die Stabilität des WACC (Weighted Average Cost of Capital, kalkulatorischer Zinssatz für das im Stromnetz gebundene Kapital) bestätigt.
Für ein zukunftsfähiges Netz muss die Regulierung in anderer Hinsicht angepasst werden. Um nur zwei besonders kritische Bereiche zu nennen: die Bewilligungsverfahren, damit die erneuerbaren Energien ohne Verzug erschlossen werden können, und die Tarifierungsregeln, die fit für die Dezentralisierung und die Elektrifizierung gemacht werden müssen. Ein Auge auf die Produktion zu haben, ist zweifellos richtig – aber vergessen wir nicht die andere Seite der Medaille.
Dominique Martin, Leiter Public Policy VSE