Emotional Literacy am Beispiel der Liebe
So wie wir „lernen“, menschlich zu sein, lernen wir auch zu lieben. Forschungen von Psychologen, Psychiatern, Soziologen, Anthropologen und Pädagogen weisen darauf hin, dass Liebe eine „gelernte Antwort, eine gelernte Emotion“ und damit ähnlich zu behandeln ist wie eine Sprache, die man lernt.
Eine Fremdsprache lernt man, indem man Grammatik und Vokabeln paukt und Satzkonstruktionen verinnerlicht. Wirklich sprechen lernt man die Sprache aber erst in dem jeweiligen Land. Wenn man nämlich versteht, warum manche Ausdrücke verwendet werden, wenn man die Gestik und Mimik in die Deutungshoheit der Sprache einbezieht und so dem eigenen Sprechen Lebendigkeit und Authentizität verleiht. Denn genau jetzt verschwimmen Sprache und Kultur und bilden einen gemeinsamen Kontext. Das also, was wir in unserer Muttersprache selbstverständlich von Kindheit an lernen. In beiden Fällen – der Liebe und der Sprache (oder auch der „Sprache der Liebe“) spricht man von „Literacy“ – einem (sprachlichen) Kontextverständnis.
Dieses sprachliche Kontextverständnis geht weit über das Vokabellernen und Grammatik verstehen hinaus. Es spiegelt vielmehr eine „kontextabhängige Ansammlung sozialer Praktiken“. In dieser Kontextabhängigkeit entwickeln und verändern sich die Lese-, Schreib- und Sprechpraktiken aller Menschen immer dann, wenn sich auch ihre biografischen, kulturellen, politischen und historischen Kontexte verändern.
Das ist vergleichbar mit der Liebe, eine der grundlegendsten menschlichen Emotionen, ohne die kein einziges Menschen-Baby überleben kann. Auch sie entsteht im Kontext, ist erlernbar und verändert sich Zeit unseres Lebens. Hier verhalten wir uns jedoch kulturell so, als ob Liebe nicht gelernt ist, sondern in jedem Menschen schlummert und nur darauf wartet, durch romantische Gesten und den „richten“ Mann oder die „richtige“ Frau zum Leben erweckt zu werden.
Dabei hat Liebe, als Emotion, ähnlich viele Facetten wie eine Sprache. Sie ist von Kontext zu Kontext anders. Es gibt die Geschwisterliebe, die Liebe zu den eigenen Kindern, die Selbstliebe, die Nächstenliebe, Menschenliebe, Tierliebe, die Liebe zur Natur, zum Beruf, zu den Kolleginnen und Kollegen; es gibt die narzisstische Liebe und die Hassliebe. Schließlich lieben wir auch bedingungslos, wir lieben körperlich (Eros) und jeder Mensch durchlebt irgendwann einmal die erste Verliebtheit. In die Gefühlswelt der Liebe gehört außerdem die tiefe Verbundenheit zu anderen Menschen, tägliche liebevolle Zuwendungen und das Gefühl der liebevollen Selbstachtung.
Wenn wir Liebe in ihrer ganzen Schönheit und Tragik „als emotionale Sprache“ sprechen und sie zutiefst verinnerlichen und verstehen wollen, brauchen wir gewissermaßen ein „Kontextverständnis der Liebe“ – also „Love Literacy“. Und so wie mit der Liebe, so verhält es sich wie mit allen anderen Emotionen. Sie sind vielschichtig, kontextabhängig, werden kulturell gleich empfunden, aber unterschiedlich gewertet und ausgelebt. Aus der „Love Literacy“ wird „Emotional Literacy“.
Emotional Literacy macht uns zu „ganzen“ Menschen. Sie hilft uns, unser emotionales Potenzial zu leben, zu erleben und an ihm zu wachsen und zu transformieren – vom Kind, zum Jugendlichen, zum Erwachsenen, zum weisen Menschen. In jeder Lebensphase an jedem Tag unseres Lebens reifen wir durch ein bewusstes Kontextverständnis unserer Emotionen. Indem wir uns ihnen nicht hingeben, uns nicht in ihnen verlieren oder sie gar unterdrücken, sondern als sie als eine emotionale Sprache betrachten, deren Vokabular sich verändert, je besser wir die Sprache sprechen und je intensiver wir in die vielschichtigen Facetten ihrer Kultur und der jeweiligen Kontexte eintauchen.