Entwicklungsorientierte Bildung bedeutet agile Didaktik

Entwicklungsorientierte Bildung bedeutet agile Didaktik

Es geht um Kompetenzen! Dieses Bildungsverständnis verstärkte sich ab den 90er-Jahren. Wissen als Bildungsziel wurde nicht abgelöst, sondern in einen grösseren Zusammenhang eingeordnet: Können braucht Wissen – und ist doch umfassender.

Auf Wissensorientierung folgte also die kompetenzorientierte Bildung: verbrieft im Bologna-System, im Schweizer Lehrplan 21 – und fast überall. Ist damit das Ende der Geschichte der Pädagogik erreicht, das ultimative Bildungsverständnis gefunden?

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Eher nicht. Was also kommt danach? Nun, es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass wir bereits am Anfang eines nächsten Paradigmas stehen. "Kritisches Denken" oder "Kreativität" etwa gehören schon zur nächsten Etappe. Sie sind eher vermeintlich "Kompetenzen", nicht einfach (future) "Skills". Denn:

  • Kritisches Denken kann man nicht in derselben Art lernen wie Prozentrechnen, nicht in derselben Art lernen wie in einer Fremdsprache nach dem Weg zu fragen und auch nicht in derselben Art, wie man Programmieren erlernen kann.
  • Auch für "Kreativität" als Lernziel kann man schlecht einen "Workload" angeben.
  • Punkto Prüfen kommt man ganz schön ins Nachdenken, wenn es um "Kritikfähigkeit" geht, während man für typische Kompetenzen wie "Holzverbindungen situationsgerecht realisieren können" auf bekannte Prüfungsformen zurückgreifen kann.

An all dem und an weiteren Punkten merkt man: Da ist etwas grundlegend anders geworden. Zwar wird für dieses Andere oft noch dasselbe Wort, also "Kompetenz", gebraucht. Das ist einerseits verständlich, andererseits verschleiert es mehr als dass es klärt. Denn Kreativität, kritisches Denken, Kritikfähigkeit, auch Perspektivenübernahme und Empathie, auch gelingende Kommunikation oder Offenheit für Neues könnten eher so etwas wie gewachsene Eigenheiten einer Person, wie Entwicklungsergebnisse eines Menschen sein: etwas, das man zwar fördern kann – und auch soll! – und das sich doch einer pädagogischen Machbarkeit entzieht; förderbar durchaus, aber noch weniger "machbar" als schon der Kompetenzaufbau im Vergleich zur Wissensaneignung.

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Tatsächlich! Wir sind schon am Anfang eines neuen Paradigmas angekommen, unmerklich und doch kraftvoll. Wir brauchen dieses neue Paradigma, sehr sogar, um die jetzigen Problemstellungen unserer Welt gut anpacken zu können. Es geht also um "Entwicklung als Mensch", was wiederum "Kompetenzaneignung" nicht ablöst, keinesfalls ersetzt, sondern in sich aufnimmt, neu rahmt und ausrichtet.

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Am Anfang eines neuen Paradigmas weiss man vieles noch nicht. Für das Bildungssystem stehen nicht nur Fragen rund um Prüfungen an. Auch die Frage, wie man denn selbständiges Denken fördert, ist knifflig. Denn wenn meine Lernenden das sagen, was ich sage, wenn ich kritisch denke, heisst das gerade nicht, dass sie kritisch denken. Wie kann ich sie dabei unterstützen, etwas mit guten Gründen zu vertreten, was ich nicht vertreten würde? Wie kriege ich so viel "Neutralität" hin? Wie so viel gute reflexive Distanz zu meinen eigenen Überzegungen? Man merkt, wie sehr in der "Entwicklungsorientierten Bildung" die Lehrenden anders, stärker und vor allem als Mensch gefragt sind. Es geht um eine Professionalität, die ein Sich-Einlassen als Mensch umfasst. Was hilft ihnen dabei – und dabei, zugleich das Ziel und ihre Aufgabe gradlinig im Auge zu behalten?

Helfen tut uns, dass es in der Bildungsgeschichte ausgezeichnete Ansätze für all das gibt. Besonders beeindruckend etwa die personzentrierte Bildung, über die schon Carl Rogers ein ganzes Buch schrieb. Aber auch dialogisches Lernen nach Ruf und Gallin, EduScrum, Churer Modell, schon Inverted Classroom bieten nicht nur Handlungsansätze, sondern langjährige Erfahrung, von der man lernen kann. Im Grund kommen wir damit ein Stück weit auch zu ganz ursprünglichen Verständnissen von Bildung ein Stück weit wieder zurück, zu Plutarch vielleicht oder zu Sokrates.

Für Lehrende bedeutet das vor allem etwas: Bildung verändert sich noch mehr von "Einweg" zu "Kreislauf"; von "vermitteln" zu "zusammenarbeiten", von "vorausgehen" zu "sich einlassen". Wie funktioniert das konkret und praktisch? Zugegeben: "Agil" ist zu einem Modewort geworden und ist oft mehr Etikette als Gehalt. Da aber, wo der Gehalt wirksam ist, da werden die entsprechenden Konzepte sehr hilfreich. Man kann "agile Didaktik" auf drei Prinzipien reduzieren und diese bei sich selbst schrittweise stärken: Klares Ziel, differenzierte Wahrnehmung, lebendiges Methodenrepertoire. Die Lernwirksamkeitsforschung bestätigt diesen Dreiklang.

Wie anpacken, wo loslegen? Erstens: Wir alle tun es bereits. Es geht nicht darum, dass wir etwas völlig Neues zu lernen hätten, keinesfalls! Nein, es geht darum, Dinge, die wir alle immer schon können, zu verstärken, in ihrer Richtigkeit und Bedeutung zu erkennen und natürlich weiter auszubauen, zu pflegen, zu entwickeln.

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Inzwischen gibt es zweitens eine kraftvolle Community, in die man sich einfinden kann, mit der man nach eigenem Mass in Kontakt kommen kann. Das Internet hilft, Weiterbildungsangebote sind im Entstehen, Bücher stehen bereit. Am meisten hilft dabei, selbst ausprobieren und dann hinschauen. Wer sich für das Lernen der Lernenden interessiert, wirklich wahrnimmt, was passiert, ist schon eine agile Lehrende, ein agil Lehrender. Denn wer hinschaut, ist auch bereit, neu zu steuern, auch aus dem Moment heraus – und das ist genau Agilität: ein lebendiges Methodenrepertoire angesichts differenzierter Wahrnehmung dazu, wo die Lernenden stehen, fortlaufend auf ein klares Ziel hin einsetzen. Unideologisch: Es gibt nicht "die gute Didaktik", auch nicht "die richtige Didaktik". Es gibt für Lehrende die Aufgabe, die je "eigene gute Didaktik" zu finden, was in Tat und Wahrheit heisst: laufend weiter zu entwickeln. Das gelingt, indem ich als lehrende Person eben schaue, was den Lernenden hilft. Und genau davon lerne.

Klar: Man kann zudem von anderen Lehrenden lernen. Man kann auch von Konzepten tatsächlich profitieren. Mir haben die Forschungen von Tausch und Tausch und verschiedenen anderen wichtige Inspirationen gegeben. Und viele Menschen: Andreas Sägesser, Tim Kantereit, Manfred Künzel, Hansruedi Kaiser, Jean-Paul Munsch, Clemens Diesbergen, Thomas Tribelhorn, Walter Burk, Sebastian Walzik, Christian Stalder, und so viele weitere.

Mitten in diesem Gefüge engagierter Menschen gestalte ich meine Beiträge. Die nächsten sind ein Eintageskurs in Scharans GR am Samstag, 24. Juni 2023, 10–16:45 Uhr, ein eineinhalbtägiger Kurs in München am 25./26. Mai 2023. Keynotes, Materialzusammenstellungen und einige Kurzvideos auch.

Ich freue mich darauf, wie sich Verbundenheiten verstärken und neue Beziehungen entstehen. Es ist ausserordentlich spannend, wie auf verschiedensten Ebenen wirklich Interessantes passiert, Gemeinsames sich gestaltet.

Jürg Leuenberger

Genniesst den (Un-)Ruhestand und interessiert an Bildungsfragen

1 Jahr

Wichtige und zielführende Gedanken. Doch wenn in den Schulen die Lehrpersonen fehlen, die verbleibenden tendenziell mehr Lernende begleiten müssen, schaffen diese dann den Paradigmenwechsel? Ich sehe in der Bildungspolitik und den für die Bildung zur Verfügung stehenden Ressourcen kaum Ansätze, welche sich auf demselben Weg befinden. Wir laufen so Gefahr ernüchtert feststellen zu müssen, dass Behörden, Eltern und Wirtschaft nicht verstehen (wollen/können), wohin die Reise geht....

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