"Es geht um Resilienz, nicht um Ideologie": Ein Gespräch mit Varnan Chandreswaran über Wokeness, Philosophie und mentale Stärke
Symbolbild, KI-generiert via Midjourney.

"Es geht um Resilienz, nicht um Ideologie": Ein Gespräch mit Varnan Chandreswaran über Wokeness, Philosophie und mentale Stärke

Varnan, du bist Neurowissenschaftler, Psychologe, Doktorand und machst YouTube-Videos zu Philosophie, Resilienz und "Wokeness". Wie kam's dazu?

Das kam eher zufällig. Ein Freund und ich haben an einem philosophischen Videowettbewerb teilgenommen, bei dem es um den Klimawandel und die Frage ging, ob man in dieser Zeit Kinder bekommen sollte. Wir haben gewonnen, und das hat uns motiviert, weiterzumachen. Zunächst habe ich mich auf philosophische und wissenschaftliche Themen konzentriert – Dinge wie Philosophie des Geistes, Theorie und Wissenschaft im Allgemeinen. Aber mit der Zeit hat sich das gewandelt, und heute befasse ich mich mehr mit Themen, die in Richtung Achtsamkeit und Resilienz gehen.

Dein Übergang zu gesellschaftlichen Themen, insbesondere zu Wokeness, war also eher eine Entwicklung als eine bewusste Entscheidung?

Es war nicht geplant, in diese Richtung zu gehen. Mein erstes Video zu dem Thema entstand eher aus einer Reaktion heraus. Es gab Kritik an einem unserer Videos, weil wir gegendert hatten. Zu der Zeit war ich noch fest im "woken Denken" verankert. Für mich war das der Common Sense, darüber wurde nicht diskutiert. Gendern war selbstverständlich und eine moralisch richtige Praxis. Aber als ich mich intensiver damit auseinandergesetzt habe, stellte ich fest, dass die wissenschaftlichen Grundlagen, die dafür oft angeführt werden, nicht so solide sind, wie ich dachte. Das war für mich der Einstieg in eine kritische Auseinandersetzung mit Wokeness.

Was genau hat dich dazu gebracht, deine Ansichten zu hinterfragen?

Es war ein kontinuierlicher Prozess. Nachdem ich das Gender-Thema recherchiert hatte, dachte ich: Okay, das Problem des Patriarchats ist ja noch da. – Also habe ich weiter recherchiert und auch da festgestellt, dass die Sache viel komplexer ist, als es oft dargestellt wird. So rutschte ich immer tiefer in diese Themen und merkte, dass vieles, was ich vorher für wahr hielt, nicht so eindeutig ist. Irgendwann wollte ich einfach für mich selbst Klarheit darüber gewinnen, was stimmt und was nicht. Daraus sind viele meiner Videos entstanden.

Und jetzt beschäftigst du dich intensiv mit dem Thema Resilienz. Wie passt das zusammen?

Resilienz ist für mich der Schlüssel, um mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen. Während Wokeness oft dazu führt, dass Menschen sich in einer Opferrolle sehen und sich von der Welt und ihren Anforderungen abkapseln, bietet Resilienz einen anderen Weg. Es geht darum, sich den Herausforderungen zu stellen und an ihnen zu wachsen. Wokeness ermutigt Menschen oft, sich vor der Welt zu schützen – Stichwort "Safe Spaces" und "Triggerwarnungen". Aber das Leben lässt sich nicht kontrollieren, und wenn man sich zu sehr zurückzieht, wird man verletzlicher, nicht stärker.

Deshalb möchte ich den Menschen zeigen, wie sie resilienter werden können, indem sie sich den Problemen stellen, anstatt ihnen auszuweichen.

Das klingt nach einer Perspektive, die sicherlich nicht überall gut ankommt. Wie gehst du mit dem Gegenwind um, den du wahrscheinlich bekommst?

Ich bekomme viel Gegenwind, vor allem aus den "woken" Kreisen. Manchmal werde ich als "anti-woke" oder "konservativ" abgestempelt, obwohl ich gar nicht aus dieser Richtung komme. Das ist oft schwer zu vermitteln. Ich war selbst lange in diesem Denken verhaftet und habe vieles davon geglaubt. Der Unterschied ist, dass ich mich irgendwann entschieden habe, meine Ansichten zu hinterfragen. Das fällt vielen Menschen schwer, weil es unbequem ist. Aber ich denke, es ist wichtig, offen zu bleiben und sich nicht von einer Ideologie einengen zu lassen.

Du sprichst von Ideologie. Wie würdest du den Begriff "Wokeness" definieren, und warum siehst du darin ein Problem?

Wokeness ist eine Bewegung, die ursprünglich aus dem Aktivismus gegen soziale Ungerechtigkeiten entstanden ist, insbesondere in den Bereichen Rassismus, Geschlechtergerechtigkeit und LGBTQ+-Rechte. Das Ziel war, gesellschaftliche Ungerechtigkeiten aufzudecken und zu bekämpfen. Das ist an sich etwas Gutes. Aber was wir heute sehen, ist, dass sich diese Bewegung in eine sehr dogmatische Richtung entwickelt hat. Es gibt wenig Raum für Diskussion oder Differenzierung. Es wird oft suggeriert, dass, wenn man nicht die gleiche Meinung hat, man automatisch gegen soziale Gerechtigkeit ist.

Das Problem ist, dass Wokeness oft einfache Antworten auf komplexe Fragen liefert – und das funktioniert nicht.

Du sprichst oft über die Bedeutung von Wissenschaft und Vernunft. Wie verbindest du diese Ansätze mit deinen philosophischen Überzeugungen?

Ich habe einen interdisziplinären Ansatz, der sowohl die Geisteswissenschaften als auch die Naturwissenschaften einbezieht.

Für mich ist Wissenschaft eine wertvolle Methode, um gute Entscheidungen zu treffen und Vorhersagen zu machen.

Philosophie liefert die theoretischen Grundlagen, um die Welt zu verstehen, aber die Wissenschaft hilft uns dabei, praktische Lösungen zu finden. Ich glaube, dass beides Hand in Hand gehen muss, um zu sinnvollen Ergebnissen zu kommen. Gleichzeitig denke ich, dass wir uns bewusst sein müssen, dass es auch Werteentscheidungen gibt, die nicht nur wissenschaftlich beantwortet werden können.

Das klingt nach einem Balanceakt. Du hast dich auch mit der Psychologie des "woken Denkens" beschäftigt. Was sind die psychologischen Mechanismen, die dahinterstecken?

Das ist ein weites Feld, das ich auch wissenschaftlich untersuche. Wokeness bietet vielen Menschen einfache Erklärungen für ihre Probleme. Es gibt eine klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse, Unterdrücker und Unterdrückten. Das ist psychologisch attraktiv, weil es eine Orientierung bietet und die Welt scheinbar einfacher macht. Aber das führt auch dazu, dass Menschen sich in einer Opferrolle festsetzen. Statt die eigenen Handlungsspielräume zu erkennen, wird die Schuld immer auf andere – auf "das System" – projiziert. Das macht langfristig unglücklich und verstärkt Gefühle von Hilflosigkeit und Angst.

Was sind deine zukünftigen Pläne, sowohl für deinen YouTube-Kanal als auch für deine wissenschaftliche Arbeit?

Ich arbeite derzeit an einer wissenschaftlichen Studie zu Wokeness, bei der ich untersuchen möchte, inwieweit diese Denkweise mit kognitiven Verzerrungen, Narzissmus und Opfermentalität zusammenhängt. Es gibt dazu bisher nur wenig Forschung, insbesondere in Deutschland. Diese Studie wird hoffentlich einige spannende Erkenntnisse liefern. Auf meinem YouTube-Kanal möchte ich mich künftig verstärkt auf Resilienz und die Frage konzentrieren, wie man ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben führen kann.

Es ist mir wichtig, Menschen Werkzeuge an die Hand zu geben, mit denen sie den Herausforderungen des Lebens begegnen können, ohne sich von Ideologien einengen zu lassen.

Gibt es noch etwas, das du den Lesern mit auf den Weg geben möchtest?

Ich würde sagen, es ist wichtig, sich immer wieder selbst zu hinterfragen und offen für neue Perspektiven zu bleiben. Vor allem in einer Zeit, in der wir oft dazu neigen, uns in einer Ideologie zu verankern, ist es umso wichtiger, kritisch zu bleiben – auch gegenüber den eigenen Überzeugungen. Gleichzeitig ist es entscheidend, dass wir uns selbst nicht in einer Opferrolle sehen.

Resilienz bedeutet, die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und daran zu wachsen. Das ist keine leichte Aufgabe, aber es lohnt sich.

Vielen Dank für das Interview, Varnan!


Das Gespräch mit Varnan Chandreswaran führte Stefanie Weig für ihren YouTube-Kanal steffi.gains.knowledge, wo es am 16.09.2024 erstmals veröffentlicht wurde.


Lesetipp zum Thema: Varnan Chandreswaran (2024): Gefangen in der Opferrolle: Warum Wokeness scheitert.



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