Europa vor der Wahl: Schreibt einfach Giorgia
Giorgia Meloni ist populär. Ihre Fratelli d’Italia (FDI) liegen in aktuellen Umfragen bei 27 Prozent. ©HSS/ AdobeStock/MozZz

Europa vor der Wahl: Schreibt einfach Giorgia

In Italien dreht sich vor den Europawahlen alles um die Innenpolitik. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni liegt mit den "Fratelli d’Italia (FDI)" bei 27 Prozent. In Brüssel wird sie bereits als mögliche Mehrheitsbeschafferin umworben.

Die Italiener diskutieren im Moment über vieles: die Kriege in der Ukraine und in Nahost, den Messerangriff auf einen Polizisten in Mailand, die Korruptionsvorwürfe gegen einen Regionalpräsidenten, die Zensurvorwürfe rund um den TV-Sender RAI. Was die Menschen in den Bars oder an der Bushaltestelle eher weniger interessiert, sind die bevorstehenden Europawahlen.

Darum machen die Parteien und Politiker das EU-Votum auch diesmal wieder zu einem Referendum über innenpolitische Themen; Europäisches kommt im Wahlkampf kaum vor. „Schreibt einfach Giorgia auf die Wahlzettel“, empfiehlt Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die als Spitzenkandidatin ihrer Partei Fratelli d’Italia (FDI) antritt. Auch die anderen großen Parteien schicken ihre besten Pferde, sprich: die Parteiführer(innen), ins Rennen – obwohl klar ist, dass keine(r) von ihnen die Absicht hat, nach Brüssel oder Straßburg zu wechseln. Wie gesagt: It’s the Innenpolitik, stupid. Zumal zeitgleich zu den Europawahlen vielerorts in Italien auch Kommunal- und Gouverneurswahlen stattfinden.

Melonis streitende Partner

Für die seit Herbst 2022 regierende Rechtskoalition in Rom geht es um das interne Kräfteverhältnis. Meloni wird von einer Popularitätswelle getragen, die ihrer nationalkonservativen Partei nach der neuesten Umfrage etwa 27 Prozent einspielen dürfte; damit ist FdI, all ihren postfaschistischen Wurzeln zum Trotz, die Nummer eins im Belpaese. Italien schickt 76 Abgeordnete nach Brüssel – Meloni kann also mit circa 25 Sitzen oder mehr rechnen.

Ihre beiden kleineren Partner aber streiten untereinander; der Forza Italia, Partei des verstorbenen Medienmoguls Silvio Berlusconi, wurde der Sturz in die Bedeutungslosigkeit immer wieder vorhergesagt. Dennoch halten sie sich derzeit im Bündnis mit Kleinstparteien wie den ModeratenNoi Moderati – bei circa acht Prozent und haben die Lega in den jüngsten Umfragen als zweitgrößten Koalitionspartner abgelöst. Der frisch gewählte Generalsekretär und Außenminister Antonio Tajani versucht die Partei als „ruhige Kraft“ der Mitte zu etablieren eine – forza tranquilla – nicht zu weit rechts und nicht zu weit links, die bei den Europawahlen zehn Prozent erreichen will.

Bei der Lega sägen einige am Stuhl von Parteichef Matteo Salvini. Auch Lega liegt in der jüngsten Umfrage bei acht Prozent, ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Forza Italia und Lega zeichnet sich ab. Salvini schickt bei den Europawahlen einen General ins Rennen, der aufgrund seiner rassistischen, sexistischen und homophoben Äußerungen von Melonis Verteidigungsminister vom Dienst suspendiert wurde. Das ist vielen Lega-Vertretern – vor allem im Norden Italiens – zuwider. Der innerparteiliche Druck auf Salvini steigt – das Wahlergebnis bei den Europawahlen wird zeigen, wie es mit ihm weitergeht.

Hoffnungsschimmer für die Sozialdemokraten (PD)

Ebenso spannend wird’s für die linke Opposition. Der sozialdemokratische Partito Democratico (PD) droht wieder mal in seine Einzelteile zu zerfallen – es sei denn, die neue, umstrittene Parteichefin Elly Schlein fährt bei den Elezioni europee ein achtbares Ergebnis ein. Danach sieht es derzeit sogar aus. Die Demoskopen geben ihr zwanzig Prozent, und der Trend zeigt nach oben; der Abstand zu Melonis FdI verringert sich, und sie enteilt zugleich den Linkspopulisten der Cinque Stelle von Giuseppe Conte (16 Prozent). Eine politische Mitte gibt es in Italien übrigens auch. Die zwei liberalen Parteien kommen zwar nicht auf hohe Prozentwerte. Doch könnten sie Meloni retten, falls zum Beispiel die Lega aus der Regierungskoalition ausscheren sollte.

Kompliziert, das alles? Es kommt noch besser. Auf europäischem Level nämlich gehören die drei Rechtsparteien, die derzeit in Rom zusammen regieren, zu konkurrierenden Parteienfamilien. Die FdI zum konservativen EKR-Block. Die Forza zur christdemokratischen EVP. Und die Lega zum Rechtsaußen-Bündnis ID, unter einem Dach mit AfD und Marine Le Pen.

Partner in der EU

Meloni ist derzeit noch EKR-Vorsitzende, wird aber nach der Wahl vom Amt zurücktreten, was ihren politischen Spielraum hin zur Mitte vergrößert. Solange sie die italienische Politik bestimmt, wird Italien auf europäischer Ebene weiter verlässlich auftreten:

  • Ja zur Unterstützung der Ukraine,
  • Ja zur EU-Asylreform, die Melonis EU-Abgeordnete im April Rückenwind gegeben hat,
  • Ja zur Wiederwahl Ursula von der Leyens als Kommissionschefin (es sei denn, Mario Draghi würde sich plötzlich doch für den Job interessieren).

Von der Leyen und EVP-Chef Manfred Weber umwerben „Giorgia“ als künftige Mehrheitsbeschafferin. Da sieht man auch mal über einige störende Details hinweg, etwa über ihr gutes Verhältnis zu Viktor Orbán.

Was aber denkt der normale Italiener in der Bar oder an der Bushaltestelle über Europa? Vielleicht, dass die Brüsseler Regelungswut sein ungedämmtes Häuschen und sein Verbrenner-Auto bedroht. Und dass der reiche Norden Italien allzu lange mit dem Problem der illegalen Migration alleingelassen hat. Vielleicht freut er sich aber auch darüber, dass Italien vom Konjunkturkuchen „Next Generation EU“ das dickste Stück abbekommen hat. Das Misstrauen gegenüber Brüssel ist in Italien zwar traditionell stark ausgeprägt, trotzdem ist die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft, zum Euro und zu einer gemeinsamen EU-Außen- und Sicherheitspolitik hoch. Klingt das für Sie widersprüchlich? Das ist es vielleicht auch. Ein Italiener aber würde an dieser Stelle mit den Achseln zucken und murmeln „Siamo in Italia“. „Das ist eben Italien…“.

Autoren: Silke Schmitt, HSS, Italien; Stefan von Kempis

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