Falsch? Richtig! Unsystemisch!
Warum ist das Richtig-Falsch-Denken so beliebt?
Ich erinnere mich an ein beeindruckendes Erlebnis im systemischen Netzwerk von @BerndSchmid in Wiesloch. Dieses Netzwerk ist eine geniale Idee des ISB und vereinigt alle Kolleginnen und Kollegen, die einmal in der Ausbildung bei Bernd in Wiesloch oder eben auch bei Gunther Schmidt in Heidelberg gewesen sind. So wurden alle „systemisch Gebildeten“ – Berater, Coaches bis zum Personaler - miteinander in Verbindung gesetzt. Es entstand ein bis heute reger und für mich einzigartiger Austausch, moderiert von sehr fleißigen Kollegen, die alle Inhalte prüfen und dann ins Netzwerk via E-Mail versenden.
Hier findet man zuweilen inhaltliche Fragen Einzelner, zu Themen aus der PE, aber auch regionale Fragen nach gleichgesinnten Gruppen, Suche oder Angebote von Räumen und zu Guter Letzt auch Jobanfragen.
Ich erinnere mich, dass ich vor einigen Jahren mich auf ein solches Jobangebot bewarb. Da ich allerdings bereits um die Not der Einsteller solcher Anfragen (es kommen einfach extrem viele Bewerbungen) dachte ich mir: Schreib doch einfach dazu: „Falls Sie Interesse an einer Zusammenarbeit haben, freue ich mich auf Ihren Kontakt.“ Die nette Kollegin befand jedoch, dass es der „Höflichkeit der Zeit“ entsprach, wenn Sie ihr Desinteresse dadurch zeigt, mir und allen anderen ein förmliches „Standard Absagedokument“ zuzusenden. Ihr kennt das.
Nun, das empfand wiederum ich als Missachtung meines ausdrücklichen Wunsches: Bitte melden Sie sich „nur“ bei Interesse. Worauf ich mich bei der Dame beschwerte: Ihr Verhalten sei aber nicht besonders aufmerksam, wenn Sie meinen Wunsch missachte. Darauf erhielt ich eine finale Antwort: „Das sei ihr ja noch nie untergekommen, Sie werde dafür sorgen, dass ich zukünftig niemals in ihrem Unternehmen berücksichtigt werden würde!
Da ich nun genügend hormonelle Energie angesammelt hatte, schrieb ich, diese Antwort-Mail als Anhang an das ISB und wetterte: „Das ist aber Unsystemisch!“
Bernd nahm sich meiner persönlich an und schrieb mir: „Was, lieber Michael, ist denn das: Unsystemisch?“
Ich denke bis heute, etwa fünfzehn Jahre später, immer noch darüber nach, was denn wirklich und eigentlich „Unsystemsich“ ist.
Es sind meist kleine Denkanstöße, die uns darauf aufmerksam machen: Wir befinden uns wieder im „Richtig-Falsch“ Modus. Oder wie es Karpman in seinem Drama Dreieck ausdrückt: Wir fühlen uns als „Opfer“, werden zum „Täter“, indem wir anklagen und wünschen uns sogleich einen „Retter“: Bitte hilf mir!
Wäre es nicht viel einfacher in unserer Welt, wenn es richtig und falsch, gäbe? Wir wären fehlerfrei, ideal, eben einfach korrekt! Was gäbe es da nicht alles Herrliches! Gerechtigkeit, wahre Liebe, die richtige Haltung (aktuell genannt ©Mindset), Vorhersagbarkeit, Linearität!
Gerade letzteres wäre der Traum eines jeden „digital addictive“! Wir könnten unsere Welt viel besser vorhersagen: Wie sich unsere Absatzmärkte entwickeln, welche Fortbewegung sich durchsetzen wird, was ich als Nächstes kaufen werde, wie das Wetter wird, ob es Stau geben wird, vielleicht sogar, welche Muskeln ich wie bewegen muss, damit ich den nächsten hundert Meter Lauf gewinne!
Eine tolle perfekte Welt!
Allerdings nichts für Weicheier wie mich! Mir macht das eher Angst. Nicht etwa die sicher hilfreichen Tools aus der kleinen smarten Kiste in meiner linken Hand… Eher die simple Weltanschauung, die dahintersteckt.
Die ja scheinbar auch in mir steckt… vor allem in Momenten, in denen ich regrediere, dann schaue ich auf sich lange drehende Kreise auf immer smarteren Displays. Oder in den Momenten, in denen ich mich besser auf meine Intuition als auf Google Maps verlassen hätte, ich einfach die nächste Tram genommen, statt mich an der ausgeklügelten Route aus der modernen App zu orientieren.
Ich höre den digitalen Aufschrei: Aber in zwei Jahren sieht es anders aus!! Dann haben wir 5G für alle, es müsste nur die Politik endlich mal richtig entscheiden!
Echt? Die Politik soll also entscheiden, wie die digitale Welt von morgen aussieht? Die Politik, nicht die Wirtschaft soll Tankstellen oder digitale Netze ausbauen?
Wunderbare einfache Welt... aber eben nichts für Weicheier wie mich!
Hat nicht schon vor wirklich langer Zeit einmal ein Philosoph in etwa gesagt, das er wüsste, nicht zu wissen? Das genau ist ja unsere, äh, also konkret meine Zwickmühle: Wir wollen so gerne wissen! Was war, was sein wird usw. Gerade und insbesondere meinen Job habe ich vermutlich gewählt, weil ich etwas weiß, was andere nicht wissen. Tja, eine klassische Zwickmühle: Ich bin also momentan ein gnostischer Agnostiker!
Aber in zwei Jahren poste ich diesen Artikel gerne nochmal… 😊