Frei oder unfrei? Mein (mal wieder) erstes Jahr als Angestellte
„Na, wie fühlt es sich an, jetzt wieder unfrei zu arbeiten?“ So oder so ähnlich begannen die Gespräche, wenn ich in diesem Jahr Kolleginnen aus meinem Unternehmerinnen-Netzwerk traf. Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich meinen ersten Anstellungsvertrag nach 15 Jahren Selbständigkeit unterschrieben - etwas, was ich noch vor gar nicht allzu langer Zeit als für mich absolut abwegig ausgeschlossen hätte. „Nie wieder angestellt arbeiten!“ das war über viele Jahre mein Glaubensbekenntnis. Und doch habe ich mich jetzt anders entschieden.
Den einen Grund dafür gab es nicht – ich hatte mir über die 15 Jahre einen treuen Kundenstamm aufgebaut. Kunden, die meine Arbeit schätzten, die meine Rechnungen zügig bezahlt haben, die auch mal auf mich warteten, wenn ich gerade ausgebucht war. Kurz: Kunden, für die ich wirklich gerne gearbeitet habe. Das Jahr 2017 war das mit wenigen hundert Euro Abstand zweit erfolgreichste Jahr meiner Selbständigkeit, ich hatte gerade ein neues Büro angemietet und einen neuen Server gekauft. Was war also der Grund, alles über Bord zu kippen und neu anzufangen?
Die Antwort liegt, denke ich, zum Teil in den Gründen, die mich damals zur Selbständigkeit motiviert haben. 2002 – das war noch ganz alte Zeitrechnung. Die Zeit vor New Work, Digitalisierung, Laptops als Standardgerät, Smartphones, mobile working und so weiter. Manches gab es – aber nicht für alle, manches war einfach noch undenkbar. 2002 war also noch eine Zeit, in der man jeden Tag im Büro aufzuschlagen hatte, eingepasst in ein relativ enges Korsett. Für einen Menschen wie mich nicht gerade optimale Gedeihensbedingungen.
Nachdem die Entscheidung zur Selbständigkeit gefallen war, kam die familiäre Situation hinzu. Mein Sohn kam Ende 2002 zur Welt – das eigene Business bot mir Chancen, die ich als Angestellte in einem typischen „Mamajob“ niemals hätte haben können: anspruchsvolle Aufgaben bei maximaler zeitlicher Flexibilität. Irgendwas Langweiliges zu machen, nur weil das in Teilzeit geht – für mich keine Option. Heute sind die Arbeitgeber da schon wesentlich weiter, aber 2002 – das war noch vor dem Elterngeld. Nur mal so.
Während das Kind klein war, war ich oft am Limit, weil bei aller zeitlichen Flexibilität die Arbeit für Kunden doch irgendwann gemacht werden muss. Kinderbetreuung war damals genau wie heute ein Katastrophenthema, als arbeitende Mutter stört man überall die Abläufe. Trotzdem war es so, wie ich es haben wollte: anspruchsvolle Projekte für tolle Kunden plus Familie. Ob ich das Modell zur Nachahmung empfehlen würde, weiß ich nicht. Man muss das schon wirklich wollen, sonst bringt man die Energie nicht auf. Aber Kinder werden größer und selbständiger und der eigene Handlungsradius als Mutter wieder weiter, auch wenn es sich über Jahre nicht so anfühlt.
Sprung zurück ins Jahr 2017 – meine Welt hatte sich gegenüber 2002 verändert und die Arbeitswelt sowieso. Homeoffice und mobiles Arbeiten sind heute zwar noch nicht flächendeckender Standard, aber doch in vielen Branchen inzwischen Realität. Auch ich war in meiner Entwicklung nicht stehengeblieben. Parallel zu Familie und Selbständigkeit hatte ich ab 2010 den Bachelorstudiengang Bildungswissenschaft und den Master Bildung und Medien an der FernUniversität in Hagen absolviert. Dazu kamen 15 Jahre Erfahrung aus anspruchsvollen Veränderungsprojekten, die ich als Change Coach begleitet hatte und fast 15 Jahre als Mutter. Eigentlich das herausforderndste Lernprojekt meines Lebens – wer Kinder hat, weiß was ich meine.
Nach der Masterprüfung Anfang Januar 2017 ging es für mich direkt weiter, wie vor dem Master. Kunden hatten ihre Projekte so geschoben, dass ich nahezu bruchlos wieder dort einsteigen konnte, wo ich ein paar Monate zuvor wegen der Masterarbeit ausgestiegen war. Für eine Selbständige ein großer Luxus. Allerdings fing genau das an, bei mir ein Störgefühl auszulösen: Ich konnte doch nicht einfach weiter machen, als wäre nichts gewesen – als hätte ich mich nicht sechs Jahre durch ein zwar bereicherndes aber doch unglaublich anspruchsvolles Studium geackert. Obwohl oder vielleicht gerade weil alles gut war, merkte ich im Laufe des Jahres, dass ich offen bin für Neues, dass Türen für mich aufgingen, die ich vorher nicht einmal wahrgenommen hatte. Ich wollte promovieren, ich wollte was Spannendes arbeiten – aber nicht mehr unbedingt im gleichen Setting wie bislang. Das „nie wieder Festanstellung“ war abgeschmolzen zu einem „wenn die Aufgabe und die Leute passen, ist mir die Vertragsart nicht mehr so wichtig“. Dringend war das alles nicht. Bis 2020 hatte ich mir als Zielmarke gesetzt, das Jahr, in dem mein Sohn Abitur macht und seine eigenen Schritte in Richtung Berufswahl unternimmt.
Wo dann die Aufgabe letztlich gepasst hat und die Leute sowieso, weit bevor ich darüber aktiv nachgedacht habe, war bei einem langjährigen Kunden. Hier hatte ich über viele Jahre das Recruiting unterstützt und das Wachstum des Unternehmens aus nächster Nähe mit verfolgen können. Mehr Wachstum bedeutete aber auch mehr und mehr administrative Aufgaben im Personalbereich, für die niemand mehr ausreichend Kapazitäten hatte. So wurde ich am 1. Januar 2018 zur ersten Personalerin der amasol AG und – nach über 15 Jahren wieder Angestellte. Wenn man eine Position ausfüllt, die es vorher nicht gab, bietet das jede Menge Gestaltungsoptionen, ist aber auch eine Reise ins Ungewisse. Wir hatten beispielsweise alle keine Vorstellung, wie viele Wochenstunden dieser Job füllt. Erstes Learning: 20 Stunden reichen nicht und auch 30 sind meistens knapp. Dass so ein Projekt nicht komplett friktionsfrei abläuft ist völlig klar – aber was für mich letztlich der größte Schritt war, war meine Social Media Profile auf den neuen Arbeitgeber umzustellen. Wenn die berufliche Identität über so lange Zeit an die Selbständigkeit gekoppelt war und das Engagement für Unternehmen bei aller Loyalität immer nur ein Engagement auf Zeit, dann ist es ein großer Schritt auf einmal unter anderer Flagge zu segeln.
Und wie fühlt es sich nun – nach einem Jahr – an, wieder „unfrei“ zu arbeiten? Als mir diese Frage zum ersten Mal gestellt wurde, wusste ich noch nichts darauf zu antworten. Irgendwann wurde mir klar, dass ich die Frage nicht beantworten kann, weil es sich nicht unfrei anfühlt. Ich kann meine Arbeitszeit frei zwischen Büro und Homeoffice einteilen (was bei einem Wohnort Frankfurt und einem Arbeitsort München auch nicht anders ginge), ich habe die technische Ausstattung, von überall aus effizient zu arbeiten, ich arbeite mit Kolleginnen und Kollegen, die selbst in unterschiedlichem Umfang remote arbeiten, meine Vorgesetzten wissen, dass ich meine Arbeit mache – egal, ob man mich dabei sehen kann oder nicht und ich bin von ganz vielen Dingen „befreit“, die nicht 100% meins sind. Um die Buchhaltung kümmert sich eine Kollegin, wenn mein Laptop spinnt, gehe ich nach nebenan zu den Admins und Büromaterial wird von einer anderen Kollegin bestellt. Ich fühle mich deshalb als Angestellte eben nicht unfrei, sondern frei. Frei, mich auf meine Stärken zu konzentrieren, frei, das zu machen, worin ich wirklich gut bin und was ich gerne mache. Um die anderen Dinge kümmern sich andere Leute, die genau darin gut sind und die genau das gerne machen, was mir Energie raubt.
Zertifizierte Coach >>> Erkennen - Verstehen - den Wandel aktiv gestalten <<< reet. leveraging organizational potential (Partnerschaftsgesellschaft)
5 JahreDanke sehr für Ihren ausführlichen Bericht ! Für mich sehr nachvollziehbar, auch die Familiengedanken :) Sich innerlich frei oder unfrei zu fühlen (!) geht eben fast überall, es kommt darauf an, welche Entscheidung man angesichts ihrer Vor- und Nachteile selbst zu treffen bereit ist und wie man mit den neuen Nachteilen dann gekonnt umgeht.
New Work Impulsgeberin: Ich unterstütze beim Brücken bauen zwischen Jung und Alt, BlueCollarBereich und Verwaltung, Teamwork der Generationen mit KI. Ich inspiriere als Rednerin, Beraterin, Autorin #NewWork #Augenhöhe
5 JahreWow, sehr schön geschrieben! Danke Silke für deinen Einblick, wie du den Unterschied zwischen selbstständiger Tätigkeit und den Weg wieder zurück in die Festanstellung für dich erlebt hast.
Understanding user needs for Employee Experience, Digital Workplaces based on Microsoft 365, Staffbase, …
5 JahreDanke für`s Teilen. Ich kann das alles sehr gut nachvollziehen und es ist für mich eine schöne Beschreibung der vielen Möglichkeiten und aber auch nicht festgefahrenen beruflichen Möglichkeiten heutzutage. Ich habe es ja genau anders herum gemacht: erst ewig angestellt und nun selbstständig. Ich schätze nun viele Freiheitsgrade und mein tolles Netzwerk in der Projektarbeit und vermisse - das war mir auch vorher klar - meine direkten Kollegen und die Möglichkeit der schnellen Arbeitsteilung. Insofern ist für mich auch nicht ausgeschlossen, irgendwann auch wieder angestellt zu arbeiten. Viel Erfolg und Freude an der Tätigkeit bei amasol!
Zuverlässiger Hausmeister mit langjähriger Erfahrung und Leidenschaft für Gebäudetechnik
5 JahreIch fand es sehr spannend geschrieben wie du dein gesamtes Leben als selbstständige Unternehmerin , Mutter organisiert hattest. Es ist schön zu sehen dass du nun als Angestellte in einer Firma die Umgebung vorfindest die Dir alles bieten kann, was du gesucht hast. Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg und eine gesunde Balance 👍
Das kann ich alles irgendwie nachfühlen. Ich liebe meine Selbstständigkeit, aber würde auch wieder in die Anstellung gehen, wenn es ein Unternehmen gäbe, welches neben spannenden Aufgaben und Projekten, vor allem auch zeitgemäße Arbeitsbedingungen wie z.B. ortsunabhängiges Arbeiten, projektbasiert statt Stundenanzahl oder Viertagewoche oder freie Wahl der Urlaubstage...aber leider sehe ich das bei den meisten deutschen Unternehmen heutzutage noch zu wenig. Homeoffice mag zwar ein erster Schritt sein, aber ist mir definitiv noch zu wenig. Ich wünsche alles Gute fürs zweite Jahr als Angestellte! :)