Friedenskontinent Europa – Eine Utopie nach Wladimir Putin Ein Kommentar zur Lage von Brigadegeneral a.D. Manfred Opel
Nichts wird mehr so sein, wie bisher.
Nach der historischen Bundestagssitzung am Sonntag, dem 27. Februar 2022,
hat der „Politische Dampfer Deutschland“ seinen Kurs und seine Geschwindigkeit
vollkommen und rasant geändert. Er läuft jetzt Richtung „Frieden sichern...mit
allen Mitteln!“. Die Nachkriegszeit ist endgültig vorbei – alles scheint möglich.
Kaum jemand hat dieser Bundesregierung die jetzt gezeigte Entschlossenheit
zugetraut. Sie hat sich freigemacht von Vorurteilen und liebgewonnenen
Wunschvorstellungen. Dabei hat sie Zusammenhalt, Augenmaß und
Entschlossenheit bewiesen. Besonders zu begrüßen ist, dass sich die CDU/CSU-
Fraktion bei dieser extrem schwierig zu lösenden Frage der Bundesregierung
anschloss. Dieses Signal an Moskau ist deutlich.
Regierung und Bundestag haben erkannt, dass man Frieden schaffen muss. Man
kann ihn nicht herbeireden. In der Folge kann man nur hoffen, dass die
Bundesregierung auf dem langen und mühsamen Weg, den sie nunmehr
eingeschlagen hat, nicht erlahmt. Das würde Demokratie-Vernichter wie Putin und
Lukaschenko nur ermuntern.
Der legendäre Ruck ging buchstäblich durch alle parlamentarischen Vertreter der
Bundesrepublik Deutschland. Darauf kann man als leidenschaftlicher Demokrat
nur stolz sein.
Lediglich die „Bürgerkriegspartei AfD“ kann sich offenbar von ihrem
liebgewonnenen Freund Putin nicht lösen.
Das sind die Elemente der neuen Realität in Deutschland:
► Die chronische Unterfinanzierung der deutschen Streitkräfte findet ein Ende.
Der Etat der Bundeswehr wird auch mittels eines zusätzlichen sog.
Sondervermögens endlich deutlich nach oben korrigiert. Die
traumatisierenden Lücken sollen schnell geschlossen werden.
► Putin ist nicht mehr „Darling der offiziellen deutschen Politik“.
► Die Angst vor Putin ist verflogen. Man hat versprochen, den tapfer
kämpfenden und bitter leidenden Menschen in der Ukraine zu helfen. Am
Ergebnis dieser Hilfe wird sich die Bundesregierung messen lassen müssen.
Der bereits jetzt erkennbar gescheiterte Diktator Putin hat zwischenzeitlich
genau das getan, was man als seine letzte Ausflucht werten muss: Er hat mit
dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht.
Das tat er klar erkennbar und absichtlich nicht in Übereinstimmung mit der
Charta der Vereinten Nationen und mit der Selbstverpflichtung, die Russland als
UNO-Mitglied und Ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates eingegangen ist.
Seite 1 von 3Dort hat sich Russland feierlich verpflichtet, Atomwaffen ausschließlich zur
Verteidigung einzusetzen.
Offensichtlich hat niemand Russland angegriffen; schon gar nicht mit
Atomwaffen. Putin will seine Nuklearwaffen offenkundig als reine Angriffswaffen
einsetzen. Dieser aggressive Akt würde eindeutig gegen die offizielle
Selbstverpflichtung Russlands und gegen die Charta der Vereinten Nationen
verstoßen. Damit zeigt er (erneut) seinen Charakter als Aggressor. Niemand
geringerer als der UN-Generalsekretär hat das offiziell festgestellt.
Folglich darf es bei einer bloßen Abwehr des russischen Angriffs auf die Ukraine
nicht bleiben. Wir brauchen dringend eine neue Friedens-, Bündnis- und
Verteidigungspolitik in Europa. Auch solche Initiativen gehören in das
Aktionsprogramm der Bundesregierung, sie fehlen jedoch bisher weitgehend.
Analysieren wir einmal die sicherheitspolitische Gesamtlage in Europa:
Es fällt besonders auf, dass Österreich wie ein „blockierendes Schwert“
zwischen Zentral- und Südeuropa liegt. Das dämpft die Verteidigungsfähigkeit
des Kontinents deutlich. Österreich sollte sich endlich dazu entscheiden, Mitglied
der NATO zu werden. Das wäre ein sehr vernünftiges Friedens-Signal.
Rechtliche Hinderungsgründe existieren heute jedenfalls nicht mehr.
Auch die Balkanstaaten, die ja zum Großteil bereits Beitrittskandidaten der EU
sind, sowie alle osteuropäischen Staaten, einschließlich der Ukraine, sollten
umgehend die Option erhalten, der NATO beizutreten. Um sie auf den
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erforderlichen Stand der demokratischen Rechtsstaatlichkeit und der
Verteidigungsfähigkeit zu bringen, könnte man beispielsweise der vollen
Mitgliedschaft die Phase eines „offiziellen Beitrittskandidaten“ vorschalten, in
welcher diese Staaten einerseits den NATO-Standard erreichen müssen,
andererseits aber bereits voll geschützt sind.
Darüber hinaus sollten alle skandinavischen Staaten das offizielle Angebot
erhalten, der NATO beizutreten. Schweden etwa hat ein besonders attraktives
Wehrstruktur-Modell, das einerseits die höchste Qualifikation der Streitkräfte mit
moderaten Kosten verbindet und andererseits den sehr schnellen Aufwuchs der
Kampfkraft in einem Bedrohungsfall garantiert. Das wäre im Übrigen auch ein
hervorragendes Modell für die Bundeswehr. Finnland, das ja erst jüngst wieder
von Russland massiv bedroht wurde, könnte so dem Frieden näherkommen und
insbesondere seine ständig bedrohte Ost- und Nord-Flanke nachhaltig schützen.
Die Aufnahme zusätzlicher europäischer Staaten wäre gerade in der heutigen
Zeit ein „großes“ Signal der Friedenspolitik der NATO. Selbst für ein Russland
nach Putin wäre es geboten, sich (erneut und perspektivisch) zu überlegen, der
NATO beizutreten oder wenigstens ihr offizieller Partner zu werden. Dadurch
würde die größte Friedenszone der Erde entstehen, Rechtsstaatlichkeit würde in
Russland einkehren und der Lebensstandard der Menschen in Russland würde
endlich das Niveau Europas erreichen können.
Seite 2 von 3Das alles mag utopisch klingen, doch als langfristiges Ziel ist es vernünftig. Die
Menschen brauchen Träume ebenso wie konkrete politische Ziele. Die
übergeordnete Absicht ist es jedoch, das Risiko kriegerischer
Auseinandersetzungen – zumal mit Atomwaffen –, soweit wie irgend möglich zu
reduzieren.
Heute ist es die Ukraine und morgen kann es ein anderer Staat sein, den Putin
oder ein anderer Machthaber nach Gutdünken überfällt. Daher muss solchen
Anführern ein- für allemal das Handwerk gelegt werden. Niemals mehr darf es in
der Macht eines einzelnen Herrschers liegen, ein Land einfach brutal zu
überfallen. Europa und die Welt müssen Putin das Handwerk legen.
Das alles bedeutet, dass Putins mörderischer Angriff auf die Ukraine eine
Zeitenwende markiert. Was undenkbar erschien, wurde nahezu über Nacht
bittere Realität. Deshalb muss für alle in der NATO klar sein: Wenn man jetzt
nicht unmissverständlich, massiv und ausdauernd antwortet, kann man den
Frieden in Europa nicht nachhaltig sichern.
Doch bleiben wir auf dem Boden der Realität: Im Angesicht der faktisch
gegebenen Bedrohung werden viele Absichten geäußert und unzählige Zusagen
gemacht. Wenn diese aber nicht eingehalten werden, verblasst der Glaube der
Menschen an die demokratische Entschlossenheit und an die Verlässlichkeit der
Politik. Es darf also nicht geschehen, dass die heute gemachten Versprechen
und Zusagen verwässert oder gar gebrochen werden.
Abschreckung ohne Aufrichtigkeit ist wirkungslos und damit wertlos.
Es wird viele Jahre dauern, bis die zwingend notwendigen Antworten auf Putins
Überfall vollständig implementiert werden können. Diese Ausdauer müssen wir
zeigen; um des lieben Friedens und um unser aller Sicherheit willen.
Man darf auch nicht nur auf die USA setzen. Die haben andere, für sie
vorrangige Interessen. Das ist auch fair. Europa muss mit Blick auf eine
friedliche Zukunft untrennbar und auf Dauer zusammenfinden. Niemand darf
abseitsstehen müssen.
Es genügt aber nicht, den Frieden nur bei uns zu sichern. Wir müssen Strategien
entwickeln, um den Frieden zu exportieren. Genau das entspricht auch dem
Geist der Vereinten Nationen. Die Rolle Deutschlands ist dabei die des
Friedenspartners. Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts, sagte
der Friedensnobelpreisträger Willy Brandt.
Putin hat – sicherlich ungewollt und nicht vorhergesehen – den Gedanken des
„Friedenskontinents Europa“ neu belebt.
Diesen Gedanken umzusetzen, ist jetzt unser aller vordringlichste Aufgabe.