Gastbeitrag Morgan Housel: Euphorie & Verzweiflung
Für Fortschritt braucht es gleichzeitig Optimismus und Pessimismus - das gilt auch beim Thema Geldanlage. Über die Kunst, die zwei Haltungen gewinnbringend auszubalancieren - von Morgan Housel.
Der richtige Umgang mit Optimismus und Pessimismus ist so schwierig. Pessimismus ist intellektuell verlockender als Optimismus und beschäftigt unsere Gedanken mehr. Pessimismus ist lebenswichtig, weil er uns auf Risiken vorbereitet, bevor sie eintreffen. Doch ebenso unbedingt brauchen wir Optimismus, den Glauben, dass die Dinge besser sein oder werden könnten, obwohl gerade vielleicht nicht viel darauf hindeutet.
Optimismus ist ein essenzieller Bestandteil von fast allem; wir brauchen ihn, um gesunde zwischenmenschliche Beziehungen erhalten und um langfristig investieren zu können. Eine wichtige Erkenntnis darüber, wie Menschen ticken, besteht darin, dass Fortschritt gleichzeitig Optimismus und Pessimismus erfordert.
Optimismus und Pessimismus scheinen einander auszuschließen, weshalb Menschen üblicherweise zum einen oder zum anderen neigen. Dabei besteht eine der wichtigsten Künste im Leben darin, diese zwei Haltungen auszubalancieren. Das war schon immer so und wird immer so sein.
Kombination aus Vertrauen und Wissen
Finanziell fährt am besten, wer spart wie ein Pessimist und investiert wie ein Optimist. Diese Kombination – aus Vertrauen, dass die Dinge langfristig besser werden, und Wissen, dass der Weg dorthin eine stetige Abfolge von Rückschlägen, Enttäuschungen, Überraschungen und Schocks sein wird – hat sich im Laufe der Geschichte wieder und wieder bewährt, in allen Lebensbereichen.
John McCain wurde zum berühmtesten amerikanischen Kriegsgefangenen in Vietnam, obwohl der höchstrangige amerikanische Kriegsgefangene dort Admiral Jim Stockdale war. Stockdale wurde regelmäßig gefoltert und beging einmal einen Selbstmordversuch, weil er fürchtete, unter der Folter einzuknicken und militärische Geheimnisse zu verraten.
Jahrzehnte nach seiner Freilassung wurde Stockdale in einem Interview gefragt, wie deprimierend er das Leben in Gefangenschaft empfunden habe. Stockdale erwiderte, so schlimm sei es gar nicht gewesen. Er habe nie angezweifelt, dass alles gut enden würde, dass er freigelassen und zu seiner Familie zurückkehren würde. Reiner Optimismus, möchte man meinen. Oder?
Genau genommen nicht. Denn auf die Frage, wer sich im Gefangenenlager am schwersten getan hätte, antwortete Stockdale: „die Optimisten“. Diejenigen, die ständig sagten, „Weihnachten sind wir wieder zu Hause“, verzweifelten, wenn wieder ein Weihnachten kam und vorbeiging. „Sie starben an gebrochenem Herzen“, sagte Stockdale und ergänzte, es brauche eine Balance zwischen dem unbedingten Glauben, dass letztendlich alles gut wird, und einem Sich Abfinden mit der brutalen Realität, wie auch immer sie aussehen mag. Irgendwann bessert sich die Lage schon, aber Weihnachten werden wir nicht daheim verbringen. Darin besteht die Balance – man plant wie ein Pessimist und träumt wie ein Optimist. Diese Kombination scheint widersinnig, kann aber Gewaltiges bewirken, wenn man sie hinbekommt.
Die Realitäten anerkennen
Es ist faszinierend mitanzusehen, wenn Menschen eine Realität anerkennen, die zum Verzweifeln ist, und trotzdem optimistisch bleiben. Der Schriftsteller James Truslow Adams prägte 1931 den Ausdruck vom „amerikanischen Traum“ in seinem Buch The Epic of America. Interessantes Timing, oder? Man kann sich schwerlich ein Jahr vorstellen, in dem der amerikanische Traum so ausgeträumt schien. Als Adams sein Buch schrieb, lag die Arbeitslosenquote bei annähernd 25 Prozent und die Vermögen waren ungleicher verteilt als fast jemals zuvor oder danach.
Während Adams den amerikanischen Traum eines besseren, reicheren und glücklicheren Lebens für alle Bürger aller Schichten beschwor, lag die Wirtschaft am Boden, überall im Land brachen Hungerrevolten aus. Als er die Möglichkeit besang, dass Männer und Frauen ihr volles Potenzial entwickelten, ungehindert von den Hürden, die ältere Zivilisationen aufgestellt haben, herrschte in den Schulen Rassentrennung und in einigen Bundesstaaten durfte nur wählen, wer nachweislich lesen und schreiben konnte. Nur selten in der Geschichte des Landes klang das Versprechen vom amerikanischen Traum so hohl, so unendlich weit entfernt von den Realitäten, denen sich jeder gegenübersah.
Trotzdem schlug Adams’ Buch ein wie eine Bombe. Seine optimistische Phrase vom amerikanischen Traum, verkündet inmitten einer düsteren Phase der amerikanischen Geschichte, wurde über Nacht zum geflügelten Wort. Der Umstand, dass 1931 jeder vierte Amerikaner keine Arbeit hatte, konnte der Idee vom amerikanischen Traum nichts anhaben. Ebenso wenig wie der Umstand, dass die Börsenkurse um 89 Prozent gefallen waren und überall im Land Menschen um kostenlose Nahrung anstanden.
„Depressiver Realismus“ und „Selige Unwissenheit“
Vielleicht wurde die Idee vom amerikanischen Traum gerade deswegen so populär, weil die Lage so finster aussah. Man musste nicht sehen, dass er sich verwirklichte, um an ihn glauben zu können – gottlob, denn 1931 gab es da nichts zu sehen. Aber der Glaube half, dass er sich erfüllen könnte, und schon fühlte man sich ein bisschen besser. Die Psychologinnen Lauren Alloy und Lyn Yvonne Abramson haben die These vom „depressiven Realismus“ entwickelt. Ihr zufolge nehmen depressive Menschen die Welt realistischer wahr, sie sehen klarer, wie gefährdet und vergänglich das Leben ist. Ich liebe diese These.
„Der These vom ‚depressiven Realismus‘ zufolge nehmen depressive Menschen die Welt realistischer wahr, sie sehen klarer, wie gefährdet und vergänglich das Leben ist. Ich liebe diese These.“ - Morgan Housel
Das Gegenstück zum depressiven Realismus ist die „selige Unwissenheit“, an der viele von uns leiden. Aber genau genommen leiden wir gar nicht. Selige Unwissenheit gibt uns ein großartiges Gefühl. Sie ist der Treibstoff, der uns morgens aus dem Bett scheucht und weiter schuften lässt, auch wenn die Welt um uns herum objektiv betrachtet fürchterlich ist und überall Pessimismus herrscht.
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1984 interviewte Jane Pauley den 28-jährigen Bill Gates. „Manche Menschen nennen Sie ein Genie“, sagte Pauley. „Ich weiß, das ist Ihnen vielleicht peinlich, aber ...“ Gates verzog keine Miene. Er zeigte keine Emotion, keine Reaktion.
Gates lachte nicht
„Okay, ich schätze, es ist Ihnen nicht peinlich“, lachte Pauley etwas gezwungen. Gates reagierte wieder nicht. Natürlich war Gates ein Genie, wie er sehr wohl wusste. Mit 19 Jahren hatte er das Studium abgebrochen, weil er fand, auf jedem Tisch in jedem Zuhause solle ein Computer stehen. So handelt nur, wer absolutes Vertrauen in seine Fähigkeiten hat. Paul Allen schrieb einmal über seine erste Begegnung mit Bill: „An Bill Gates stachen drei Dinge ins Auge: Er war echt clever. Er war von Konkurrenzdenken beherrscht und wollte dir seine Klugheit unbedingt zeigen. Und er war wirklich, wirklich hartnäckig.“
Aber es gab noch eine andere Seite seines Charakters. Bill Gates war fast schon paranoid, was nicht recht zu seinem unerschütterlichen Selbstbewusstsein zu passen schien. Vom Tag an, an dem er Microsoft gründete, beharrte er darauf, immer genug Geld auf der Bank zu haben, um ein Jahr durchhalten zu können, selbst wenn keinerlei weitere Einnahmen hereinkämen.
1995 fragte Charlie Rose ihn, warum er so viel Geld auf der Bank hortete. Gates antwortete, im Techsektor änderten sich die Dinge derart schnell, dass die Umsätze des nächsten Jahres keineswegs garantiert seien. „Auch nicht die von Microsoft.“ 2007 blickte Gates zurück: „Ich machte mir ständig Sorgen wegen meiner älteren Angestellten mit Familie. Ich grübelte unablässig: ‚Was, wenn kein Geld reinkommt? Kann ich meine Leute bezahlen?‘ “
Auch hier erkennen wir wieder Optimismus und Selbstbewusstsein, gepaart mit ausgeprägtem Pessimismus. Gates schien intuitiv zu verstehen, dass man nur langfristig optimistisch sein kann, wenn man pessimistisch genug ist, um die Gegenwart und die nahe Zukunft zu überleben. Wobei man sich klarmachen sollte, dass zwischen Optimismus und Pessimismus ein ganzes Spektrum existiert.
Am einen Ende steht der reine Optimist. Er glaubt, dass alles zum Besten steht und sich daran auch nie etwas ändern wird. Eine negative Haltung betrachtet er als Charaktermangel. Eine solche Einstellung wurzelt teilweise im Ego: Der Mensch vertraut so felsenfest auf sich, dass er sich gar nicht vorstellen kann, wie etwas schiefgehen sollte.
Beide Haltungen sind gefährlich
Am anderen Ende des Spektrums steht der absolute Pessimist. Er glaubt, dass alles schrecklich ist und immer sein wird. Eine hoffnungsvolle Einstellung betrachtet er als Charaktermangel. Auch diese Haltung wurzelt teilweise im Ego: Der Mensch traut sich selbst überhaupt nichts zu und kann sich gar nicht vorstellen, dass etwas gut geht. Er ist das genaue Gegenteil des Optimisten – und ebenso blind für die Realität wie jener.
Diese Haltungen sind beide gleich gefährlich, und beide können gleichermaßen überzeugend scheinen, wenn man irrigerweise Optimismus und Pessimismus als Alternativen betrachtet, also glaubt, man müsse sich für das eine oder das andere entscheiden. Dabei liegt das Ideal genau dazwischen.
Rationale Optimisten (wie ich sie nenne) erkennen an, dass die Geschichte eine stetige Abfolge von Problemen, Enttäuschungen und Rückschlägen ist, bleiben aber trotzdem optimistisch, weil sie wissen, dass alle Rückschläge den Fortschritt letztlich nicht aufhalten können. Rationale Optimisten mögen unentschlossen oder wankelmütig wirken, oft blicken sie aber nur weiter in die Zukunft als andere.
Egal, welches Gebiet man betrachtet – von der Geldanlage über das Berufs- bis hin zum Privatleben –, der Trick besteht immer darin, dass man kurzfristige Probleme überleben kann und folglich lange genug dabeibleibt, um die Früchte des langfristigen Wachstums genießen zu können. Spare wie ein Pessimist und investiere wie ein Optimist. Plane wie ein Pessimist und träume wie ein Optimist.
Diese beiden Fähigkeiten scheinen sich zu widersprechen, und das tun sie auch. Intuitiv glauben wir, wir müssten entweder optimistisch oder pessimistisch sein. Es ist schwer zu verstehen, dass es sowohl für Optimismus als auch für Pessimismus eine richtige Zeit und einen richtigen Ort gibt, dass beides nebeneinander bestehen kann und soll. Genau dieses Nebeneinander beobachtet man bei fast jedem langfristig erfolgreichen Unterfangen.
Wir sehen es in Unternehmen, die mit neuen Produkten gewaltige Risiken eingehen (Optimismus), gleichzeitig aber kurzfristige Schulden scheuen und zur Sicherheit stets eine große Menge flüssiger Mittel halten (Pessimismus). Wir beobachten es bei Angestellten, die ein lukratives Angebot ausschlagen, weil es ihrem Ruf schaden könnte, der ihnen langfristig viel mehr wert ist.
Und wir sehen es bei Investitionen. In meinem Buch Über die Psychologie des Geldes schrieb ich: „Ich möchte finanziell unzerstörbar sein. Das ist mir wichtiger als hohe Renditen. Da ich unzerstörbar bin, erziele ich vermutlich die größte Gesamtrendite. Denn so kann ich so lange durchhalten, bis das exponentielle Wachstum Wunder bewirkt.“
Eine wichtige Lektion aus der Geschichte lautet: Kurzfristig mag die Lage übel aussehen, aber langfristig wird alles sich positiv entwickeln. Es erfordert durchaus geistige Anstrengung, diese zwei Aspekte unter einen Hut zu bekommen und zu lernen, sie mit scheinbar widersprüchlichen Fähigkeiten zu managen. Wer das nicht schafft, endet in der Regel als verbitterter Pessimist oder als bankrotter Optimist.
Über den Autor:
Morgan Housel war Kolumnist beim Wall Street Journal. Heute ist er Partner bei The Collaborative Fund und erfolgreicher Buchautor. Nach seinem Bestseller „Über die Psychologie des Geldes“ erschien jüngst, ebenfalls im FinanzBuch Verlag (FBV), „Same as Ever – 23 Geschichten über die Dinge, die sich niemals ändern“.