Gestalten in Zeiten der Aufgeregtheit
Wenn ich in meinem Arbeitszimmer mit Blick auf den Inn sitze, erlebe ich beruhigende Ruhe. Ja, ein paar Menschen flanieren in hinreichend großem Abstand an meinem Haus vorbei. Ich höre ihr Reden und zuweilen auch das Lachen kleiner Kinder. Aber all das ist unaufgeregt. „Slow motion“ in jeder Hinsicht.
All dies steht in einer sonderbaren Spannung zur Aufgeregtheit, die gegenwärtig unsere Gesellschaft erfasst hat. Ganze Bücher werden da gerade publiziert, die sich der mentalen Irritation widmen. Heilmittel? Fehlanzeige.
Gut, dass es auch Publikationen zur Gelassenheit gibt. In durchaus ansehnlicher Zahl. Ich wage es, meine Sicht auf die Gelassenheit zu kommunizieren. Die befreit mich davon, nicht mehr alles zu müssen, was andere von mir erwarten – zumal dann, wenn noch nicht einmal klar ist, mit welchem (wie berechtigten) Anspruch mein Gegenüber seine Erwartungen begründet.
Gelassenheit empfinde ich vorzugsweise, wo ich zurückblicke. Auf das viele Geschriebene, auf gelungene Begegnungen, auf den Fundus des Gedachten (solange ich mich daran noch erinnern kann). Wahrscheinlich gehört die strukturierte Erinnerung an Zurückliegendes zur psychischen Stabilisierung im Alter. Und da geht es nicht zuerst um den Nachweis leuchtender Kompetenz, den wir unseren Kindern und Enkeln gegenüber erbringen. Da geht es primär um die Stabilisierung unserer Befindlichkeit und Orientierungsfähigkeit – gewissermaßen vor dem eigenen Spiegel.
Klar und gleichsam selbstverständlich: mir ist nicht alles gelungen, was ich mir vorgenommen hatte. Vieles habe ich schlicht versäumt. Und Vielem habe ich mich allzu bereitwillig gestellt. Mancher eigentlich vorhersehbare Aufwand in der Abwehr abweichender Persönlichkeiten hat mir dabei zeitweise den Nerv geraubt. Gut war nur, dass ich solche Personen emotional gewissermaßen an die Seite schieben, mental „nihilieren“ konnte: als für mich nicht mehr bedeutsam. Und da wurde es dann für die abweichenden Persönlichkeiten selbst langweilig. Oft erprobtes und wirkungsvolles Rezept: abweichende Persönlichkeiten ins Off laufen lassen.“Verehrter Herr …, ich habe vernommen, was Sie von sich gegeben haben. Aber ich habe von Ihnen noch keine Vorstellung gewonnen, wie ich Ihnen helfen könnte.“ Man mache den Aggressor zum Patienten. Das ist ungleich unterhaltsamer als sich auf das möglicherweise perfide Spiel des Gegenübers einzulassen.
Der Rückblick auf ein prall gefülltes Berufsleben hat nichts mit Melancholie zu tun. Ändern lässt sich ja ohnehin nur wenig. Vergangenheit ist erst mal hinzunehmen. Aber! Das Zurückliegende im Speicher der Erinnerungen zu erhalten, kann Zukunft verändern. Auch meine Zukunft! Es ist der Erhalt oder vielleicht auch die Wiedergewinnung der orientierenden Struktur. Die unmittelbare soziale Umwelt wird das Ringen um Deutung und Bedeutung bemerken.
Es ist eine alte Weisheit: Erfahrung kann man nicht vererben. Erfahrung muss jeder selber sammeln. Unausweichlich. Eine Imitation attraktiver Vorbilder könnte auf trügerische, ungesicherte Pfade locken. Das Nach-Machen kommt nämlich grundsätzlich zu spät. Und es will dann auch noch begründet werden, wobei es doch grund-los ist. Und als Aperçu: gut gemeinte Ratschläge sind eben zuweilen zu oft auch Schläge.
Noch ein Follow-up zur Aufgeregtheit:
Interessant ist - zumindest für mich -, dass gesellschaftliche Aufregung irgendwie ein Verfallsdatum hat. Menschen regen sich auf, ereifern sich im Überbietungswettbewerb der Empörung. Und ganz plötzlich ist es vorbei mit der Aufregung. Ein beeindruckendes Beispiel dafür war die Verbalschlacht um die Biotechnologie. Ist schon ziemlich lange her. Monsanto, aufgegangen in Bayer, wurde damals zum Inbegriff des naturvergessenen und ausbeutenden Bösen. Und ausgerechnet ich als Ethiker, natürlich nicht alleine, wurde für manche Gruppen zum Buh-Mann für Naturbewegte, weil ich die Biotechnologie für eine sinnvolle Option hielt - und noch immer halte.
Verfallsdatum. Wer regt sich heute noch auf über die biotechnologischen Eingriffe in das, was wir Natur nennen? Ja, wer erinnert sich noch an die 80er Jahre, in denen "Biotech" der Aufreger war? "Ein jeglich Ding hat seine Zeit." Steht schon im Alten Testament (Prediger 3).
Soll uns das beruhigen? Wohl eher nicht. Zumindest stehen der Gelassenheit, derer wir bedürfen, Akteure entgegen, die mit der Aufregung ihr Geschäft machen (können) und eben diese Aufregung möglichst lange erhalten wollen. Ein Patentrezept gegen die Ignoranz der dadurch Verwirrt-Erregten kenne ich leider nicht. Und, ehrlich gesagt, ich würde deren Beschreibung des "Wahren und Guten"irgendwie vermissen. Die ist ja durchaus mit Bedacht geschrieben, wenngleich operativ eben nicht oder kaum durchsetzungsfähig. Die Enttäuschten sehen zumeist nur noch die Rücklichter des Fortschritts-Zuges, der sich ungebremst von ihnen entfernt. Frustration wird dadurch nur noch mehr gefördert. Aber augenscheinlich gehört das zum gesellschaftlichen Spiel dazu.
Ich selbst aber - siehe meinen Beitrag zum Alter(n) - werde mich daran nicht mehr beteiligen.