Grenze des guten Geschmacks überschritten

Grenze des guten Geschmacks überschritten

Eine Antwort auf den Weltwoche-Artikel «Wir und die Alten» von Alex Baur.

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Sehr geehrter Herr Baur

Sie sind ja bekannt dafür, mit der grossen Kelle anzurühren. Ihr Beitrag «Wir und die Alten» hat die Grenze des guten Geschmacks aber überschritten. Angefangen damit, wen Sie mit der Gruppe «Wir» meinen. Wir, das Projektteam von «Karriere machen als Mensch», der Kampagne für die Fachkräfte der Langzeitpflege, möchten nicht dazu gehören. Für eine sinnvolle öffentliche Diskussion sind wir immer zu haben, jedoch müssen wohl zuerst einige Dinge klargestellt werden. Denn was Ihr Artikel ausdrückt, ist blanker Hohn gegenüber den Menschen, die in den Spitälern und in den Alters- und Pflegeheimen mit dem Tod kämpfen – sei es, um ihm nicht zu erliegen oder um ihn bei anderen zu verhindern. Und er entbehrt jeglichem Realitätsbezug, was die Pflege älterer und hochaltriger Menschen betrifft.

1) Die Haltung, die Sie beschreiben, ist kein Abbild der Gesamtgesellschaft. Ganz sicher widerspiegelt sie nicht die Einstellung der tausenden medizinischen Fachkräfte, die ihre Erwerbstätigkeit darauf ausgerichtet haben, genau diese Bevölkerungsgruppe zu unterstützen, zu pflegen und ihnen einen angenehmen letzten Lebensabschnitt zu bereiten. Mit unserer Kampagne setzen wir uns unter anderem für die Würde und Achtung älterer Menschen ein. Mitsamt ihren Lebensgeschichten, unter Berücksichtigung ihres Umfelds und immer mit dem Ziel, für sie eine lebenswerte Gegenwart zu schaffen. Und das ist auch die Haltung, die wir bei den Fachkräften der Langzeitpflege täglich erleben.

2) Sie reden davon, wie unsäglich es ist, dass man zum Schutz älterer Menschen die Geschäfte schliesst und gewisse Branchen benachteiligt. Gleichzeitig fordern Sie, dass wir diese Menschen in Hotels abschotten? Betreut werden würden die älteren Personen natürlich vom Pflegepersonal, also eine dieser Berufsgruppen, die in dafür vorgesehenen Institutionen seit einem Jahr Mehrfachschichten leistet, damit das Gesundheitssystem nicht komplett kollabiert und darüber hinaus von einem akuten Fachkräftemangel betroffen ist? Dort liegt der Kern des Problems, der wenig mit Solidarität zu tun hat.

3) Wir haben es als Gesamtgesellschaft verpasst, uns frühzeitig für bessere Rahmenbedingungen einzusetzen (das würde ja etwas kosten). Die Fachpersonen der Langzeitpflege durchlaufen spezifische, langjährige Bildungswege. Nur so lässt sich die hohe Qualität der Pflege sicherstellen – zum Beispiel das Handling dieser Pandemie, für das wir den höchsten Respekt haben sollten. Und genau deshalb lässt sich die Herausforderung auch nicht kurzfristig mit sonderbaren Vorschlägen wie corona-reduit.ch lösen und es braucht erhöhte Schutzmassnahmen. Es ist eine Frage der Ressourcen. Unser Versäumnis als Gesellschaft nun in Fragen umzumünzen, wer überleben darf und wer nicht, wer diese Konsequenzen zu tragen hat und wer nicht, ist anmassend und entbehrt jeglicher Empathie.

Vielleicht geniessen Sie Ihren Lebensabend auch in einer Seniorenresidenz. Es bleibt zu hoffen, dass dann Personen mit einer anderen Gesinnung als Sie diese Residenzen leiten. Damit auch Sie eine menschenwürdige und qualitativ hochwertige Pflege erhalten und geschützt werden – auch während einer Pandemie.

Stefan Glantschnig Ein pointierter und wertvoller Artikel. Im Allgemeinen unterstütze ich Deine darin vertretenen Ansichten. Nur die Aussage, wir hätten es verpasst uns frühzeitig für bessere Rahmenbedingungen einzusetzen, finde ich ein wenig fragwürdig. Fast 12 Prozent des Schweizer Bruttoinlandprodukts fliessen in die Gesundheitsversorgung – das ist Europarekord.

Benu Stoll

Mitglied der Geschäftsleitung / Partner bei der topHYPO AG

3 Jahre

@Glantsch: Gut geschrieben, mein Freund! 👍

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