Grenzen erreichen. Grenzen überwinden.
Horos (altgr. ὅρος) bezeichnet die Grenze, den Grenzstein. Der menschliche Frisson, eine solche zu überschreiten wird in der Moderne in Horrorfilmen stilisiert, gezielt erlebbar gemacht. Wo früher meist natürliche Gegebenheiten, wie Flüsse, als Demarkationslinien die Differenz zwischen hier und dort markierten erfand der Mensch bald Begriffe um zwischen dies- und jenseits-von zu unterscheiden.
Systemtheoretiker haben diese zweiwertige Logik in Theorien ausgebaut und gezeigt, welchen Wert es für soziale Systeme – also Staaten, Religionsgemeinschaften u.a. – hat, wenn es gelingt zweiwertige Logiken durchzusetzen. Es ist erst die Differenz, die einem erlaubt, auf ein Gegenüber einzugehen, sich als Mensch zu begegnen. Und so hat es seinen Wert, wenn ein System seine Grenzen etabliert, seine Grenzen erreicht.
Doch möchte ich auf einen besonderen Aspekt von Grenzen eingehen, der selten Beachtung findet – weil er unangenehm zu denken ist, gerade unter studiertem Volk. Um dies zu tun möchte ich mich auf drei Traditionen oder Denker stützen, von denen ich meine, dass sie sprachgewaltige Bilder geschaffen haben, die diesen Unterschied benennbar machen.
1. die alte griechische Mythologie, die einen klaren Unterschied macht zwischen dem Appolinischen und dem Dionysischen – den Nietzsche in seiner «Genealogie der Moral» und auch in «Jenseits von Gut und Böse» treffend entfaltete.
2. Wittgenstein, ein Denker dessen frühe Schriften so appolinisch waren: Man denke an den Tractatus, in dem es heisst: «Die Grenzen (sic!) meiner Sprache, sind die Grenzen meiner Welt» - gleichzeitig ein Denker, dessen späte Schriften die Begrenztheit dieser Perspektive überwinden bis es heissen kann: «Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache».
3. Gottlob Frege, der in seiner Begriffsschrift darlegt, dass zweiwertige Systeme immer entweder entscheidbar oder vollständig sind – nie aber entscheidbar und vollständig zugleich sein können. Und damit mathematisch fundiert, was Schiller in seiner Kantkritik oder die Bacchanten an Apoll über Jahrhunderte kritisierten, nur nicht in logischen und mathematisch sauberen Formeln beweisen konnten, weshalb jeder zweiwertig logisch Denkende es als gefühlsduseligen Unsinn abtun konnte.
Der für mich spannende Punkt ist nun, dass obwohl Luhmann und Co. dargelegt haben, dass Grenzen erreicht werden müssen, notwendig sind, diese Grenzen nicht fähig sind, alle wesentlichen Entscheidungen zu treffen. Der Mensch muss, wenn ihm das Projekt Leben gelingen will, über das zweiwertige Denken hinaus andere Denkfiguren und Entscheidungspraktiken entwickeln, um vorwärts kommen zu können. Er muss also nicht nur Grenzen überwinden, sondern auch das Denken in Grenzen, die immer nur ein hier oder dort kennen, überwinden.
Es ist Jordan B. Peterson in seinem Buch Maps of Meaning meiner Meinung nach gelungen darzulegen, dass die Helden-Epen vieler Kulturen oft die Menschen besingen, denen es gelingt über die kulturell vorgeformten Strukturen hinaus zu gehen und anschlussfähig mit der Tradition zu brechen. Helden gelingt es, dem Chaos jenseits der Grenzen ihrer Kultur Neues abzuringen und dies erfolgreich in den bestehenden Zeitgeist und ihre Kultur zu integrieren.
Im Kleinen versuchen Unternehmen genau das mit ihren Innovationsbestrebungen zu erreichen. "Out of the box thinking", "kreative Zerstörung" (ein Begriff, den Nietzsche noch vor Schumpeter prägte), Peter Thiel´s "Zero to One" oder der Begriff des "verbindenden Brechens" (Ernst Bloch) sind Knotenpunkte in der Geistesgeschichte die sich mit diesen Momenten der Grenzverschiebung befassen. Human Centered Design ist eine Methode, die in die gleiche Richtung zielt, nämlich auf eine sinnerhaltende Grenzverschiebung.