Halbjahresbilanz 2022: Resilienz schlägt Effizienz
Globale Pandemien, Lieferkettenengpässe, Krieg in Europa – was sich bisher nach einem unvorstellbaren „Worst Case“-Szenario anhörte, wurde zur Realität. Die Politik spricht von einer Zeitenwende. Die Geschichte steht an einem Wendepunkt. Umso wichtiger ist es nun, Orientierung zu bieten und die richtigen Lehren aus vielfältigen Versäumnissen zu ziehen. Es ist unübersehbar, dass unsere Gesellschaft sich insgesamt in zentralen Bereichen neu aufstellen muss. Auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos, wurden genau diese Themen diskutiert.
Das Credo „Wird schon gut gehen“ hat ausgedient
Entscheidungsparameter verschieben sich heute immer dynamischer, sei es auf Grund zunehmender Naturkatastrophen, einer globalen Pandemie oder kaum mehr vorstellbarer Regelverletzungen innerhalb der Staatengemeinschaft wie wir es gerade in der Ukraine erleben. In den vergangenen Jahrzehnten sind wir allerdings sehr dem Credo „Wird schon gut gehen“ gefolgt. Mit Blick auf sinkende Kosten rückte das Thema Widerstandsfähigkeit, die sog. Resilienz in der globalen Wirtschaft an zweite Stelle, nach höchster Effizienz und damit verbundener Arbeitsteiligkeit. Doch die vergangenen drei Jahre haben uns gezeigt, was passieren kann, wenn es keinen Plan B gibt. Was wir jetzt tun müssen: Umdenken. Verantwortung für die Zukunft übernehmen heißt in dieser Zeit, die Resilienz unserer Systeme dramatisch zu verbessern. Und: Wir müssen mit aller Kraft für eine breite gesellschaftliche Akzeptanz dieses Weges eintreten.
Was passiert, wenn wir dies nicht tun, wurde im Rückblick auf die Pandemie deutlich, und auch aus dem völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine können wir ähnliche Lehren ziehen. Neben unserem Gesundheitssystem müssen Staat, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft insgesamt robuster, wesentlich beweglicher und intelligenter werden. Unverzichtbar sind dafür umfassende und eingeübte digitale Strukturen und Prozesse.
Keine Zukunft ohne Digital
In Deutschland ist die seit vielen Jahren angemahnte Digitalisierung leider bislang auf halbem Wege stecken geblieben. Die lange notwendige analoge Nachverfolgung von Corona-Kontakten, fehlende Akzeptanz der Corona-App und falsch verstandener Datenschutz sind bezeichnend dafür. Zwar war die Lernkurve in der Wirtschaft während der Pandemie sehr steil, doch wir wissen, dass erfolgreiche Digitalisierung kein Ereignis ist, sondern ein Prozess. In der Pharma- und Chemiebranche verständigten sich Arbeitgeber und Gewerkschaft schon 2018 in einem Tarifvertrag auf ihre „Roadmap Arbeit 4.0“ und beschritten diesen Weg dann ebenso konsequent wie erfolgreich. Auch ohne Pandemie schon damals eine Notwendigkeit.
Auch Merck durchlief schon früh einen langjährigen Prozess umfassender digitaler Transformation. Die strukturierte Umgestaltung umfasste neben dem Aufbau der nötigen Prozesse und Systeme insbesondere auch einen Kulturwandel, denn digitale Revolution muss auch in den Köpfen stattfinden. Bis ins Detail wurde dieser Prozess begleitet von einem intensiven Dialog der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite – und umfassenden Trainings für Führungskräfte wie Mitarbeiter. Als Ergebnis sind die internen Strukturen und Prozesse des Konzerns seit geraumer Zeit ausnahmslos digitalisiert, harmonisiert und global vernetzt. Mobiles Arbeiten ist eine Selbstverständlichkeit – zumindest für alle Arbeitsplätze, die sich dafür eignen. Was es für eine erfolgreiche digitale Transformation braucht, sind Investitionen, Überzeugungsarbeit und eine Macher-Mentalität.
Wir brauchen Plan B, C und D
Wenn wir mehr Widerstandsfähigkeit unserer Gesellschaft einfordern, dann müssen wir auch den Standort Deutschland und Europa insgesamt in den Blick nehmen. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten mit Blick auf sinkende Kosten dem Leitmotiv höchster Effizienz und Arbeitsteiligkeit in der globalen Wirtschaft ein gutes Stück unserer Widerstandsfähigkeit im Krisenfall geopfert. Heimische Produktion fiel weg, internationale Logistik wurde immer wichtiger, die Lieferketten komplexer. Einen Plan B gab es häufig nicht.
Tatsächlich aber führen lange globale Wege, einseitige Abhängigkeiten von Regionen und einzelnen Zulieferern im Krisenfall zu großen Herausforderungen im Hinblick auf unsere Lieferketten und auf Rohstoffversorgung. Das führt dann wiederum zu dramatisch steigenden Preisen bis hin zu Versorgungsengpässen. Das wurde im Rahmen des Ukraine-Krieges sogar noch viel deutlicher als in den beiden Jahren davor während der Pandemie.
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Wie können wir uns hier robuster aufstellen? Auch wenn gerade das Schlagwort von der De-Globalisierung die Runde macht: Dies wäre gewiss der falsche Weg. Er würde nicht nur bei uns selbst, sondern auch bei unseren Handelspartnern in aller Welt zu einem erheblichen Wohlstandsverlust führen. Der enorme Handelsbilanzüberschuss belegt, wie riskant eine solche Alles-oder-nichts-Strategie gerade für Deutschland wäre.
Stattdessen brauchen wir eine neue Balance zwischen dem Bekenntnis zum globalen Handel und einer verbesserten Widerstandsfähigkeit der Lieferketten. Dazu zählen
All das hat seinen Preis – aber eben auch einen Wert: Es sind Investitionen in mehr Resilienz und Sicherheit. Wenn wir nicht bereit sind, diesen Preis zu zahlen, wird er im Krisenfall um ein Vielfaches höher.
Unausweichlich ist auch eine Aufwertung der Produktion von Schlüsseltechnologien an heimischen Standorten. Sie wird die globale Arbeitsteilung insgesamt ein Stück weit verschieben. Deutschland und Europa werden ihre Lieferketten rekalibrieren und die Fertigung kritischer und komplexer Produkte dichter am Unternehmenssitz positionieren. Automatisierung und künstliche Intelligenz werden dazu beitragen, die Kosten unter Kontrolle zu halten. Das „Re-shoring“ nimmt angesichts der stark angestiegenen Logistikkosten bereits Fahrt auf. Es wird der Widerstandsfähigkeit Deutschlands und Europas zugutekommen.
Gemeinsam haben wir jetzt die Chance, den heimischen Produktionsstandort durch Deregulierung und Modernisierung unbürokratischer, digitaler und konkurrenzfähiger zu machen.
Zusammenarbeiten und Vertrauen wiederherstellen
Um dies zu ermöglichen, müssen Politik und Wirtschaft in einen offenen Dialog treten.
Das Weltwirtschaftsforum in Davos hätte daher kaum zu einem besseren Zeitpunkt stattfinden können, um Verantwortliche aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammenzubringen – Menschen mit dem Wunsch und dem Einfluss, die Welt zum Besseren zu verändern. Damit dies gelingt, ist globale Verantwortung und Zusammenarbeit gefragt. Sei es die Bekämpfung des Klimawandels, die Erholung nach der Pandemie oder auch die aktuelle Situation in Europa und die daraus resultierenden Folgen für die Wirtschaft und Gesellschaft, die Botschaft des WEFs ist deutlich: Wir müssen gemeinsam globale Verantwortung übernehmen und zusammenarbeiten, damit wir die ambitionierten Ziele, die wir uns gesetzt haben, erreichen können.
Nur so werden wir widerstandsfähiger für den Fall eines „Worst Case“-Szenarios - in der Hoffnung darauf, dass es nicht eintreten wird. Ich bin gespannt auf diese neue Ära der Zusammenarbeit.
Betriebsratsvorsitzender Gemeinschaftsbetriebsrat Merck bei Merck KGaA, Darmstadt, Germany
2 JahreLieber Herr Beckmann, es freut mich sehr diese Zeilen hier zu lesen. Genau diese Ausrichtung auf Effizienz statt Resilienz bzw. Effektivität ist es, die uns nun in eine solche Lage gebracht hat. Ich könnte jetzt sagen, dass ist genau das, was Betriebsräte und Gewerkschaften seit Jahren fordern, und was vielerorts als "Standortnationalismus" abgetan wurde. Das würde uns aber nicht weiterbringen. Ich freue mich daher, auch im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen in den anderen Konzernen der (chemischen) Industrie diesen Weg konsequent mit Ihnen zu gehen und eine neue, robuste und nachhaltige Industrie für die Menschen in Europa und der ganzen Welt zu schaffen.