HALT#14: "Ich glaube, dass wir alle eine Verantwortung haben."
©Martina van Kann: Stefanie Stoltzenberg-Spies passt in keine Schublade.

HALT#14: "Ich glaube, dass wir alle eine Verantwortung haben."

Wenige Tage sind es noch, als ich Stefanie Stoltzenberg-Spies treffe: Überschaubare Zeit bis zur Wahl in Brandenburg. Mit vier Parteien deren Wahlergebnisse in einer etwa gleichen Prozentzahl vorhergesagt werden. Eine davon ist klar außerhalb des demokratischen Spektrums. Und Stefanies Meinung, ihre Einschätzung ist mir wichtig, weil sie nicht über die Menschen in Brandenburg spricht, sondern mit ihnen. Sie diesen Austausch bewusst sucht, fördert, Menschen zusammenbringt. Und nicht auf einer Politiker-Sommer-Reise, wie manch andere. Sie hat sich von der Parteipolitik vor einigen Jahren verabschiedet. Sondern weil sie viel Zeit in Brandenburg verbringt, in Streckenthin, einem kleinen 100 Seelen Ort, der in der Prignitz liegt. Wo sie und ihr Mann Dr. Bernd-Georg Spies im Gutshaus geheiratet haben und ihnen mittlerweile das Erdgeschoss gehört. In dem Stefanie ein offenes Haus führt und in dem sie an vielen Tagen im Jahr lebt. Keine Wochenendvilla hinter hohen Zäunen mit Alarmanlage. Ein Herzensort, ein Ort, der ebenso Realität ist, wie ihr zweiter Wohnsitz Hamburg. "Ich bin Milieu-kompatibel" sagt Stefanie mit einem gewinnenden Lächeln von sich - und den Zusatz "auch wenn man das auf den ersten Blick nicht meinen mag", den stellt sie noch schnell dahinter. Und das ist eine ihrer großen Stärken in meinen Augen. Catarina Felixmüller hat es in einem Artikel im "Der Hamburger" so formuliert: "Sie kennenzulernen, heisst Vorurteile aufzugeben. Und zwar sofort." Trefflich wahr.

Denn es wäre leicht, Stefanie in eine Schublade zu packen: Teil der Hamburger Gesellschaft, vier Kinder, zweite Ehe, Charity-Engagement, Unternehmerin, Gastgeberin für Hausabende auch unter dem Dach der von ihr gegründeten Strasburger Kreise . Die Frau mit dem beeindruckenden Adressbuch und den "richtigen" Kontakten. Und all das wäre viel zu eindimensional, weil es sie außen vor lassen würde: Einen Menschen, der so wunderbar direkt und undiplomatisch sein kann, der nicht hinter den Berg hält mit einer Gegenmeinung, wenn sie findet, dass sie ausgesprochen werden muss, manchmal gänzlich ohne hübsche Verpackung, immer aber zugewandt. Egal, wer vor ihr steht. Eine Frau, die keine Plattitüden mag. Und die nicht Namen sammelt, sondern die ein Interesse an Menschen hat und sich für ihre Themen interessiert und Freude daran hat, immer wieder neue Menschen miteinander in Kontakt zu bringen. "Ich habe keine Ehrfurcht vor einem Amt, sondern vor der Persönlichkeit. "

Sicher ein Grund, warum das mit der politischen Karriere für sie kein Erfolgsmodell war. Stefanie ist Juristin, hat ihre erste Tochter kurz vor dem ersten Staatsexamen bekommen und ihr zweites Kind dann im Referendariat. Auch das zweite Examen hat sie dennoch gemacht. Zwei weitere Kinder folgten, und doch war sie immer auch aktiv neben ihrer Mutterrolle. Auch parteipolitisch: Mitglied der Bezirksversammlung Altona und dann von 2004 bis 2008 in der Hamburgischen Bürgerschaft. Dort saß sie im Familien- Kinder- und Jugendausschuss sowie im Kulturausschuss. Und hat für sich nach vier Jahren beschlossen, dass Parteipolitik nicht ihres ist: Das "Gefallen gegen Gefallen" war kein Modell für sie. Und die CDU später auch immer mehr keine Heimat. Aber auch keine andere Partei, sagt sie selbst. Weil sie dieses Geschachere nicht mag, sondern sich Politik wünscht, die nicht nur für manche ist, sondern sich um die wichtigen, großen Themen kümmert. Und hat sich neue Wege gesucht, um wirksam zu sein: "Ich will die Demokratie stärken. Dazu muß man aber ins Gespräch kommen und miteinander im Gespräch bleiben."

Und vielleicht ist sie genau deshalb in Streckenthin auch in der Dorfgemeinschaft angekommen. Sicher nicht bei jedem, aber bei Menschen, die sie näher kennengelernt haben, die erfahren konnten dass sie keinen Dünkel hat, sondern ein ehrliches Interesse an Menschen. Und dass sie keine Berührungsängste hat, sondern anpackt. Etwa wenn das Dorffest vor der Türe steht, das vor dem Gutshaus stattfindet, und Stefanie zum Schrubber greift und mit die Zelte sauber macht, die dafür aufgebaut werden. Mit professionell manikürten Fingernägel, geschminkt und wahrscheinlich auch ein wenig anders angezogen als der Rest. Auch da verbiegt sie sich nicht, sie hat keine "Stadt-Land-Kollektion" sie ist immer sie, trägt auch auf dem Land oft hohe Schuhe und ist dennoch "handfest", wie sie selbst sagt. "Ich bin mir für nichts zu schade, ich mache das von Herzen gerne." Und reflektiert, dass sie einfach unheimlich viel Energie hat und wenig Schlaf braucht, aber gerne auch hier ruft, wenn sie findet, dass etwas getan werden muss und die anderen in der Reihe sich vornehm zurückhalten. Und viele Engagements fliegen sie auch einfach an: Wie ihr Einsatz für die Stiftung junge norddeutsche philharmonie , in der Musiker und Musikerinnen im Alter von 19 - 27 Jahren sich zusammenfinden für Musikprojekte in Norddeutschland. Dafür braucht es Geld - und Stefanie tut das ihre, damit das sich findet. Sie sagt aber auch: "Mich bereichert das ungemein und die Arbeit mit Menschen aus einer ganz anderen Generation ist einfach sehr spannend. Und ich habe mich unterzuordnen, sie entscheiden." Oder ihr Vorstandsvorsitz für die "Wissen Weltethos Weltzukunft WWW-Stiftung", die im November eine Reise für Handwerksmeisterschüler nach Brüssel anbietet, um Europa greifbarer zu machen. Und noch einige andere Aktivitäten, alle nicht ein wenig Charity, sondern alles Ausdruck des "wir müssen doch etwas tun", das sie antreibt.

Streckenthin ist für dieses hohe Tempo ein Kontrapunkt, besonders dann, wenn sie ihrer Passion nachgeht, die für sie kein Hobby ist, sondern Lebenseinstellung: der Jagd. Wenn sie morgens um 4 Uhr in den Wald fährt, sagt sie, dann macht sie das nicht, um jedes Mal mit dem Erfolg eines Abschusses zurückzukommen. Sie genießt es, in der Natur zu sein, findet es meditativ, anzusitzen. Und wenn sie schießt, dann gehört für sie auch dazu, sich um das erlegte Tier zu kümmern, es weiterzuverarbeiten. Sie ist keine "Gesellschaftsjägerin", die auf einer Drückjagd der feineren Gesellschaft sich zeigt. Sie geht mit Menschen aus der Umgebung auf die Jagd und ist fester Bestandteil der Jägerschaft geworden. Hat Kontakt mit sehr unterschiedlichen Menschen, die ein ganz anderes Leben führen als sie. Sie respektiert diese Menschen - und bekommt diesen Respekt auch zurück. Und wen man kennt, dem erzählt man mehr.

Die ganze Region Prignitz findet Stefanie, ist es wert, dass man genauer hinhört. Sie hat die STRECKENTHINER KREISE gegründet, einen Verein, der sich der Förderung von Kunst und Kultur, internationaler Gesinnung und Toleranz verschrieben hat. In Streckenthin veranstaltet sie "Abendbrotgespräche" und lädt dazu ein: Referenten, die zu Themen der Zeit und der Region sprechen, wie Bundesminister Cem Özdemir des Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft , den überzeugten Europäer Jean Asselborn, Dietmar Woidke, den Ministerpräsidenten von Brandenburg von der Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und seinen Herausforderer Jan Redmann von der CDU Deutschlands . Aber auch Menschen aus dem Dorf, aus der Region. Nicht nur die, die man eh immer trifft, sondern eine breite Mischung von Menschen, denen sie die Chance geben will, ihre Gedanken zu äußern und Antworten auf Fragen zu bekommen. Und auch einmal ein wenig mehr Informationen zu bekommen als nur Schlagworte. Da gibt es dann Teilnehmer, die sich erst nach einigen Terminen trauen, in dieser Runde auch etwas zu sagen. Und dann einfache, aber klare Fragen stellen, die oft auf den Punkt bringen, was für den ländlichen Raum wirklich wichtig ist. Keine "hippen Trendthemen" der Großstadt, mit denen die Menschen auf dem Land oft nichts mehr anfangen können. Sondern Themen, die die Menschen bewegen, die zumeist in den Unternehmen arbeiten, die sich in der Prignitz angesiedelt haben, die Arbeitsplätze schaffen und Multiplikatoren auch sind: Das Zahnradwerk Pritzwalk, Glatfelter , die ENERTRAG , die in der Region 200 Millionen EURO investieren und Brandenburgs erste Wasserstofffabrik bauen will. Was aber auch auffällt hier in der Prignitz, wie im ganzen ehemaligen Osten: Es gibt nahezu keine Führungskräfte mit einer "Ost-Vita" in den Unternehmen. Stefanie findet, das zum einen für die Bewohner der Region demotivierend, meint aber auch, dass da etwas fehlt in den Unternehmen, weil auch diese Menschen aus ihrer Geschichte Impulse in Unternehmen bringen könnten, die für die Gesellschaft wertvoll sind. Ebenso kritisch sieht sie, dass in vielen Unternehmen die Unternehmenslenker nicht mehr in der Region wohnen, sondern das Management an- und abreist. Da fehlt dann auch die Verankerung in der Region, die über das Geschäft hinausgeht, wenn das eigene Leben nicht in der Prignitz stattfindet. Und auch das Eingebundensein in das, was die Menschen bewegt - über die Arbeit hinaus.

"Die Unerhörten" nannte Jean Boué , ein guter Freund von Stefanie, einen Film über den Wahlkampf in der Prignitz vor der letzten Landtagswahl und erhielt dafür 2020 den Grimme Preis. Ein Titel, der viel Deutungsspiel gibt, ein Film, der den Menschen im ländlichen Raum Gehör gibt und gleichzeitig auch aufzeigt, wie unerhört und menschenunwürdig Forderungen der undemokratischen Partei im Wahlkampf sind. Und wir sehen dennoch, wie bei Wahlen mit populistischen Parolen Stimmen gemacht werden. Unsere freiheitlich demokratische Grundordnung steht auf dem Spiel, wenn wir vergessen, dass Freiheit immer mit der Verantwortung einhergeht, diese Freiheit zu schützen, weil wir sie sonst verlieren. Und dass die Demokratie ihre Limitierung in unsere Verfassung findet, in den dort festgelegten fundamentalen Werten, wie dem Grundrechtskatalog.

Lamentieren und man müsste mal sind definitiv vorbei: Die Vertreter der Parteien werden von uns als Gesellschaft gewählt und ich glaube es ist Alarmsirene für die demokratischen Parteien, nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner voranzustellen, sondern die großen, wichtigen Themen anzugehen, die, die auf die Zukunft gerichtet sind und damit auch einer nächsten Generation wieder Perspektive geben. Die alle Menschen betreffen. Auf dem Boden unserer Verfassung in einer freiheitlichen Demokratie. Und auch zu reagieren, wenn sich Dinge überlebt haben, gesellschaftliche Entwicklungen in eine andere Richtung gehen. Das muß man sich trauen, erklären und ja, das wird nicht jedem gefallen. Das wird auch nicht ohne Zumutungen gehen, wir sind ein wenig bequem geworden in unserer Haltung des „Der Staat richte es“ scheint mir. Wir sind aber auch als Gesellschaft gefragt, uns zu engagieren für unser Zusammenleben. "Kümmern wir uns umeinander, helfen wir uns, ist es selbstverständlich, dass man füreinander einsteht," formuliert es Stefanie nachdenklich und fügt an: "Haltung ist für mich hinschauen und im individuellen Maße auch zu handeln. Nicht jeder hat die Kraft das gleiche zu machen, aber jeder kann etwas tun. Ich sehe so viele wohlsituierte Menschen um mich herum, die sich nur in ihrer eigenen Blase bewegen und nur ihre eigenen Befindlichkeiten im Blick haben. Ich finde das sehr traurig."

Sie hat für sich beschlossen, dass es das nicht sein kann, sie will, dass Menschen im Gespräch bleiben, dafür schafft sie Begegnungsräume. Dafür tritt sie aber auch ein und findet, dass das etwas ist, was jeder kann:Populistische Aussagen nicht zu ignorieren, sondern zu kommentieren, denn "wir haben alle eine Verantwortung Menschen anzusprechen."

Werden ihre Abendbrotgespräche in Streckenthin die Wahlergebnisse verändern? Wahrscheinlich nicht, aber sie sieht es als ihre Aufgabe als aufrechte Demokratin, Menschen dazu zu motivieren, "ihre Köpfe einzuschalten nicht nur auf propagandistische Phrasen zu reagieren." Sie hofft dass es reichen wird, am 22. September, dass zwei der etablierten Parteien vielleicht mit einer Mehrheit regieren können. Für sie ist aber auch klar: "Es gibt, egal wie es ausgeht, ganz viele Gründe, weiter für die Demokratie zu arbeiten."

#HALT #Haltungleben #Demokratie #Toleranz #Verantwortung #niewiederistjetzt


Birte Ballauff

Geschäftsführender Gesellschafter bei Hamburg Car Events | Marketing, CEOs

2 Monate

Sehr gut geschrieben, macht Lust auf mehr!

Nicola Halder-Hass

Mit Denkmalberatung zu planbaren Projektentwicklungen und grandiosen Denkmalimmobilien I Strategie . Denkmal-Afa . Denkmaldokumentation I 25 Jahre leidenschaftlich als Immobilienökonom ebs + Denkmalexpertin aktiv.

2 Monate

Haltung zeigen, Raum für Gespräche schaffen, sich gegenseitig inspirieren lassen in diesen Zeiten ist so wichtig. Liebe Stefanie Stoltzenberg-Spies, Dir gelingt es mit Euren Hausabenden. Super Engagement!

Dr. Bernd-Georg Spies

Founder and Managing Director bei Spies PPP

2 Monate

Inspirierend

York Asche

Stiftungsspezialist bei der Bethmann Bank

2 Monate

Tja, was soll man sagen.... einfach eine tolle, bewundernswert Frau!

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