Haufen oder Team?
"Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" ist eines der beliebtesten Zitate unter Trainern, Teamentwicklern und Führungskräften. Gern verwendet im Kontext einer vermeintlich systemischen Sicht. Gern völlig falsch verwendet als ‚sich selbstausführendes Teamentwicklungs-Instrument‘. Gern zitiert ohne auch nur eine Ahnung von der vollständigen Version zu haben.
Um es mal ganz deutlich zu sagen:
Dieser Zitatstümmel ist keine ausreichende Grundlage für eine systemische Arbeit oder etwa der Beweis persönlicher Systemtheorie-Expertise. Da braucht es dann doch ein wenig Konstruktivismus, eine Prise Autopoeisis und etwas Selbstreferentialität. Das kommt Ihnen spanisch vor? Dann bitte nochmal bei Luhmann, von Förster oder von Bertalanffy nachlesen, vor dem Verbreiten schlauer Zitate. Was Aristoteles definitiv nicht gesagt hat:" Wenn man eine Gruppe von Menschen zusammenstellt, dann gibt es automatisch Innovationen, neue Ideen, geniale Erfindungen und überhaupt jede Menge mehr als der Einzelne zu leisten bereit und fähig wäre." Oder haben Sie das schon mal erlebt? Ich nicht. Auch jetzt gerade nicht, hier im ICE nach Berlin. Dabei sitzen hier jede Menge Menschen, die sogar dasselbe Ziel haben. Aber nix passiert, kein Zündfunke, keine Chemie, nix Ganzes....
Was steckt denn dann hinter Aristoteles' Ausspruch? Hier zunächst die lange Version:
" Das, was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet - nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe -, das ist offenbar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile. Eine Silbe ist nicht die Summe ihrer Laute: ba ist nicht dasselbe wie b plus a, und Fleisch ist nicht dasselbe wie Feuer plus Erde."
Also leider kein Wunderversprechen, keine Magie, nichts "Läuft von alleine", sondern der Aufruf zu echter Führungsarbeit. Um aus einem Haufen ein Team zu machen, braucht es Arbeit. Ja, ja, ich weiß schon - "Ich forme aus jedem Haufen ein Team von Top-Performern. Mit der richtigen Ansprache und Motivation schaffe ich das immer". Das ist großartig und ich gratuliere von Herzen, wenn damit die Zusammenstellung eines diversen Teams und das Setzen der Rahmenbedingungen für Selbstorganisation gemeint sind. Denn was macht denn aus einem Haufen ein Team? Wo liegt der Unterschied?
Finden sich Menschen in einem sozialen System zusammen, dann entsteht zunächst ein Haufen von distanzierten Individuen. Die oberste Führungsaufgabe also ist aus dieser Distanz eine Nähe zu gestalten. Dazu lernen die Kollegen sich kennen, das ist Schritt 1. Und zwar der einfachste. Noch eine Bemerkung am Rande; es reicht nicht aus dazu ein tolles Teamevent arrangieren zu lassen und den Rest über Hoffnung zu managen. Denn nun muss jeder Einzelne etwas aufgeben - ein Stück seiner Freiheit, ein Stück Autonomie. Hier beginnt die echte Arbeit und es wird schnell klar, dass das kein Selbstläufer ist. Gelingt es mit den richtigen Rahmenbedingungen und dem notwendigen Maß an Diskurs und Auseinandersetzung aus den Einzelkämpfern ein kreatives Team zu bilden, ist ein wichtiger Meilenstein erreicht. Aber Vorsicht, sich jetzt auszuruhen und zu glauben "das bleibt so", ist gefährlich. Gerade wenn es sich um ausgewiesenes Expertenteam handelt, bleibt Teamentwicklung ein stetiger Prozess. Aus den Diven, die ihr Fachgebiet beherrschen und für ihre Expertise entsprechend Raum und Anerkennung fordern, müssen immer wieder die Fähigkeit zu ständigem Wandel und konstruktivem Miteinander gekitzelt werden. Die Basis dafür, und das überrascht wohl kaum, ist Vertrauen und Kooperation. Und dann ist das Zitat von Aristoteles auch an der richtigen Stelle.
In diesem Sinne … bleiben Sie erfolgreich!
Ich unterstütze Organisationen dabei, vom Kunden aus zu denken und interdisziplinäre Teams und Prozesse an den Kundenbedürfnissen auszurichten.
7 JahreSehr wahr und wie immer spritzig geschrieben, @Stephanie. Danke dafür! Ich habe mich gerade gestern Abend sehr lange und ausführlich mit Birgit Wilde darüber unterhalten, was es braucht, damit Mitarbeiter gut und gerne in Teams zusammenarbeiten. Besonders wichtig finde ich, dass jeder im Team weiß, warum er etwas tut und wie wichtig der Beitrag jedes einzelnen ist. Außerdem merke ich immer wieder, dass Zusammenarbeit im Team nicht gut funktioniert, wenn eine "Wer-hat-den-Fehler-begangen"-Kultur herrscht. Also kein, "Hier ist ein Fehler passiert, lasst uns gemeinsam überlegen, wie wir es nächstes Mal besser/anders machen können", sondern "Das war Herr XY, damit habe ich nichts zu tun."