Heute wird's persönlich | Keine professionelle ohne die private Gritt

Mir ist gerade noch mal etwas bewusster geworden: Seit letztem Jahr werde ich von Mitmenschen in potenziell lebensgefährdende Situationen gebracht, weil einige keinen Abstand einhalten und einen MNS tragen, sobald im Stadtleben partizipiert wird. Mir fällt das also auf beim Lebensmittelkauf, gelegentlicher ÖPNV-Nutzung und meinen Spaziergängen. 

Klar, es ist nie die beste Zeit für eine Pandemie. Aktuell verliere ich meine innere Gelassenheit deshalb unter Umständen recht fix. Denn die gelassene Gritt und damit einhergehende Abgrenzung habe ich mir erarbeitet. Und ich bin noch nicht fertig. Das ist mein Leben. Und ich will richtig, richtig alt werden. Deshalb reagiere ich auf weniger allergisch, als auf diejenigen, die meine Gesundheit und dadurch meine Lebensziele gefährden.

Hier einige Teile meines Wiesos:

Heute feiere ich meinen zweiten Geburtstag. Zum 21. Mal. Vor 7.768 Tagen lag ich in einem Berliner Krankenhaus, habe “Es sieht sehr, sehr ernst aus, Frau Hoffmann” gehört und meine Eltern direkt um 10 Jahre altern sehen. Ich habe ein halbes Jahr nach der OP gebraucht, um wieder normal laufen zu können. Mich und meine Ängste in die Balance zu bringen, dauerte länger. Ich war 23 und habe damals verstanden, dass in einer Millisekunde alles anders und aus sein kann.

Ich war scheinfrei und ready fürs erste juristische Staatsexamen. Stattdessen habe ich meine Bundesschatzbriefe gekündigt und bin auf extensive Reisen gegangen. Vor allem bin ich ein Jahr lang jeden Morgen aufgewacht und habe “Ich bin am Leben!” gedacht. Und dann ist “das Leben” mit all seinen Facetten eben auch passiert. War nicht immer fetzig. Ging aber immer weiter.

Statt Juristin bin ich Verwaltungswissenschaftlerin. Zum Glück! (Ich habe trotzdem nie alle formalen Voraussetzungen für den Öffentlichen Dienst erfüllt.) 

Ich bin von der Perfektionistin zur ‘done is better than perfect’-Verfechterin geworden. Definitiv stressfreier. Und erfüllender.

Ich habe entdecken dürfen, dass es mir unfassbaren Spaß macht, Struktur in Firmen und Projekte zu bringen (Danke, Jura!), Strategien zu entwickeln, Iteration Raum zu geben und ‘Inside the Box’ zu denken. 

Ich brauche Teams. Ich führe gerne. Ich bin Generalistin und kollaboriere so wahnsinnig gerne im multidisziplinären Raum. 

Ich habe noch nie so viel gespendet, in mein ‘Humankapital’ investiert und meinen Körper so bewußt fit gehalten, wie in 2020.

Klar fehlen mir die Tee- und Mittagspausen mit einem direkten Gegenüber. Stattdessen glühen seit 10 Monaten die Telefondrähte und schwirren Bildauflösungen so im Homeoffice, dass ich bald wieder zum Optiker muss. Das ist alles nicht die beste Variante, aber eben im Rahmen voll OK. Übrigens: Im Jahr 2000 mussten wir uns noch ins Internet einwählen. Vorgestern ist mein WLAN pünktlich ausgefallen, als mein erstes #WOL-Gruppentreffen anstand. Habe ich halt mein mobile als Hotspot genutzt. Wie wow ist das denn bitte!?

Mein Tumor war die global gezählte Nummer 11 dieser Art. Das hat damals sehr viel mit mir gemacht. Heute feiere ich – wie seit 2001 immer – diesen Geburtstag mit einem Scotch und einigen Lächeln. Und bin dankbar hier zu sein und für alles, was ich seitdem erleben durfte. Es ist mein Leben. Kompromisse gehören dazu. Aber die werden weniger. Ich bin zufrieden. Ich möchte mehr, ich möchte groß und ich habe Bock viel zu reissen.

Selbstverantwortung und inneres Wachstum bedeuten eventuell auch Verantwortung und noch mehr Offenheit für andere. Ich will #Frauenstärken. Ich bin Feministin. Ich gehöre der Minderheit an, die aufgrund ihrer Sexualität gerne in Schubladen gesteckt werden. Allerdings sind Schubladen genau null mein Ding. Jede:r, der eine Verbündete oder ein Ohr braucht, weil etwas nachhallt, kann mich gerne jederzeit anhauen. Ich habe vor, noch lange und erfüllt zu leben. Und weiter zu lernen, schlauer zu werden, anzuwenden, zu teilen.

Jede:r ist die Summe all ihrer bzw. seiner Wiesos und Werte. Und das macht Authentizität und Vielfalt im Beruflichen aus – und Teams erfolgversprechend. 

Merci hier an alle, die meine beruflichen Wege bisher – egal in welcher Form – mitgestaltet haben.

Auf ein grandioses und gesundes 2021! 

Aber vor allem: Aufs Leben!

P.S. 

Vor ein paar Jahren wollte ich Udo Voigt in der Gedenkstätte Hohenschönhausen nicht rumführen. Ein anderer übernahm. Es folgten veritable ‘Lesermeinungen’ aus rechter Ecke dank des O-Tons des selbsternannten Nationaldemokraten: “Intolerante linksextremistische Museumsführerin.” (Ritterschlag, quasi.) Und – damals zu meiner Verwunderung – Angriffe und komplettes Unverständnis wegen meiner Weigerung auch direkt in-house. Bei mir wurde ein paar Tage später eingebrochen und meine beiden Montblanc-Füller gestohlen. Einer davon wurde mir zu einem zweiten Geburtstag geschenkt.

Derjenige auf Leitungsebene, der mich u. a. fragte “Was haben Sie eigentlich gegen Nazis, Frau Hoffmann?”, ist nicht mehr in Leitungsposition. Weil es eine Gruppe mutiger Frauen gab, die genug von sexueller Belästigung hatten. Und sie den Rückhalt bekamen, den jede:r bekommen sollte. 

Und ich habe mir inzwischen zwei neue Füller gekauft. Um schneller auf den Punkt zu kommen ;-).