Humor ist so schön, er schwebt frei von Begehrlichkeit über den Erscheinungen.

Robert Musil

Hedwig weilte mit ihren Kindern, Anselm und Pilar, und ihrer Freundin Anna auf der griechischen Insel Lesbos.

Da war Nichts.

Kein Animateur, der zuverlässig Spass organisierte; keine Freizeitmenschen, die von morgens bis abends ihren Hobbies wie dem Wassersport nachgingen oder Tennisspieler, die wechselseitig unentwegt den Ball mit ihren Schlägern ins gegnerische Feld schlugen.

Niemand da, der die Leere verscheuchte.

Die Insel war, ausser weniger Touristen, nur von Einheimischen bevölkert.

Da entdeckte Hedwig einen Fahrradverleih, der sogar Kindersitze dazu vermietete. Das war der Startschuss für die gemeinsame Fahrradtour.

Nach etwa einer halben Stunde strampeln entdeckten die Vier eine siedend heisse Quelle direkt am Meer. Die beiden Frauen stiegen ab und schoben die Räder, mit den sitzenden kleinen Kindern darauf, den steilen Pfad hinunter. Das war ganz schön anstrengend, die Drahtesel über die Sand- und Steinpiste zu manövrieren!

Unten angelangt, wollte Anselm, der Ältere, sofort raus aus dem Sitz und über den Steinstrand zum Meer. Hedwig nahm ihn zu sich und sprach: «Du gehst nicht zum Meer. Du bleibst erst mal in der Nähe der Räder, claro?!» Anselm nickte. Pilar blieb einfach auf den Steinen sitzen, die angenehm warm waren. Sie konnte noch nicht laufen.  

Rund um die heisse Quelle hatten die Inselbewohner ein einfaches Becken aus Steinen gebaut, damit sich das heisse Quellwasser mit dem Meerwasser mischen konnte.

«Mmmmh, was für ein Ort des Heils und des Glücks!», entfuhr es Hedwig.

Sie zog ihrer Kleinsten Schwimmflügel an. Auch Anselm bekam welche über die Arme gezogen. Dann gingen sie zum Meeresbecken. Im ersten Drittel war das Wasser sehr niedrig und herrlich warm wie in einer Badewanne.

Die Kinder jauchzten vor Freude. Ein Naturbad unter freiem Himmel mit einer Sonne direkt über ihnen, die so strahlte wie sie es lange nicht mehr tat.

Die Griechen halten das Nichts für ein Erlebnis. Es ist der Kuss der Musse. Dieser Kuss stellt nichts Produktives her. Dieser Kuss will einfach über eine lange Weile gelassen ausgehalten werden. Mit allen Sinnen. Wach und aufnahmebereit für das Schöne im Moment.

Hedwigs Gedanken plätscherten ziellos dahin und blieben doch aufmerksam bei den Kindern.

Plötzlich rief Anselm nach ihr und zeigte freudig den Einsiedlerkrebs, den er unter dem grossen Stein am Strand entdeckt hatte. Pilar war inzwischen von Anna aufs Badetuch gelegt worden. Müde vom Badeplausch, rollte sie die Augen und schlief wenig später ein. Anselm verlangte nach einem Sandwich, setzte sich auf das Badetuch, begann zu essen und schaute bedächtig aufs Meer hinaus.

«Was wird er wohl für kreative, absichtslose Gedanken in seinem Kinderhirn bilden?», sinnierte Hedwig beim Anblick des versunkenen Sohnes.

Musse ist doch eigentlich Zeit ohne zielorientiertes Interesse. Der Kuss der Musse kann manchmal ein Moment sein, in dem das Göttliche den Menschen berührt, sagten die alten Griechen.

Inzwischen zog ein Wind auf und die Sonne begann unterzugehen. Die Kinder wurden angekleidet und auf den Fahrradsitz gehievt.

Mann o Mann war das anstrengend die Zweiräder so gegen den Wind mit dem ganzen Gepäck hoch zu schieben! Oben angekommen legte der Wind noch einen Zacken zu. Feiner Sand stäubte ihnen ins Gesicht. Als Hedwig sich zu Anselm umdrehte, der hinter ihr auf Annas Fahrrad sass, sah sie, dass er ganz rote Augen hatte.

Sie rief ihm zu: «Anselm Kind, Du hast ganz rote Augen vom Wind!»

Worauf er erwiderte: «Mama, ist der Wind denn rot?»

_____________________________________________________________________

Birgitta Schermbach, auch als Blühbirne bekannt, initiiert Erzählräume und lädt seit 2019 ein, über die Vorzüge einer humorvollen Haltung zu sprechen. Zudem leitet sie Humorseminare, in denen Humor als Lebenskunst in unterschiedlichen Variationen ausprobiert werden kann.

Siehe auch www.birgittaschermbach.ch

#HumoristallesistHumor

#Blühbirne