„Ich bin noch nicht bereit dafür.“ - #3: Zu den Wurzeln: „Was ich durch meine Vorfahren über die Gegenwart lernte.“
Als mich vor einiger Zeit jemand fragte, wen ich gerne einmal treffen würde, antwortete ich: „Meine Uroma.“
Ich würde sie gerne fragen, wie es für sie damals war, als ihr alles weggenommen wurde. Als sie mit ihren sechs Kindern nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrem Heimatort Přední Výtoň vertrieben wurde. Wie es war, nicht zu wissen, ob der Ehemann jemals aus dem Krieg zurückkehren würde. Wie es war, alles zu verlieren und an einem unbekannten Ort neu anzufangen.
Die meisten meiner (Ur-)Großeltern sind bzw. waren sogenannte Sudetendeutsche. Obwohl sie die meiste Zeit ihres Lebens in Baden-Württemberg, Landkreis Karlsruhe, verbrachten und teilweise noch heute dort leben, liegen ihre – und damit meine – Wurzeln im heutigen Tschechien, direkt an der österreich-tschechischen Grenze im Böhmerwald.
Doch meine Uroma starb 17 Jahre vor meiner Geburt. Ich habe nicht mehr die Chance, persönlich mit ihr zu sprechen, aber ich wollte ihr Leben verstehen. So erfüllte ich mir einen langjährigen Wunsch: Gemeinsam mit meiner Mutter reiste ich nach Přední Výtoň (deutsch: Heuraffl). Der Heimatort meiner Urgroßeltern, meiner Großmutter…. und ich hatte nicht erwartet, dass mich diese Zeit dort so berühren würde…
„Manchmal fragen wir uns, ob ihr jetzt da oben sitzt, und auf uns schaut.“
Mit diesen Worten schlossen wir unseren Eintrag im Buch der Gedächtniskapelle Guglwald ab. Eine Gedenkstätte der Böhmerwäldler. Ein wunderschöner Ort der Erinnerung, des Friedens - in Gedenken an die Gefallenen des Krieges und die Hinterbliebenen der Pfarrgemeinden. Mir kamen die Tränen, als wir eine Kerze entzündeten und ich war sehr dankbar dafür, diesen stillen Moment mit meiner Mutter genießen zu können. Unsere Vorfahren sind ein Teil von uns. Ihre Geschichte prägt uns. Durch Erzählungen, durch unsere Erziehung, aber auch durch unsere Genetik.
Obwohl ich meine Urgroßeltern nie persönlich kennen lernte, fühlte ich mich ihnen an diesem Tag sehr nahe. Mein Urgroßvater wurde seit April 1945 in Italien vermisst, meine Urgroßmutter starb im Jahr 1977. Sie hatte nicht mehr erlebt, wie sich die Grenzen öffneten. Beim Grenzübergang Guglwald geschah dies sogar erst im Jahr meiner Geburt, 1994. Doch dort ist die Erinnerung lebendig.
Der Eiserne Vorhang. Ein Mahnmal, das mich verstummen ließ. Unvorstellbar in der heutigen Zeit…doch sehr präsent. Dieser Moment regte mich sehr zum Nachdenken an mit dem Blick auf die Welt und dem, was heutzutage in vielen Regionen und Ländern geschieht. Als würde sich die Geschichte wiederholen, die jahrelang als bereinigt galt. Mich selbst lehrte dieser Moment am Mahnmal eine tiefe Dankbarkeit und Demut, heute so frei und privilegiert leben zu können. All diese Möglichkeiten erkennen und ergreifen zu können, im Frieden zu sein. Das wünsche ich mir für die Welt. Frieden, Miteinander. Freiheit.
„Es fühlte sich seltsam vertraut an, als wäre ich schon einmal hier gewesen.“
Nach diesem ersten emotionalen Heimkehren stand der eigentliche Grund unserer Reise an: ein Ausflug nach Přední Výtoň - Heuraffl im Böhmerwald. 4km und wir waren dort.
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Mein erster Impuls: Es fühlte sich seltsam vertraut an. Obwohl ich noch nie zuvor an diesem Ort gewesen bin, war es für mich innerlich wie ein nach Hause kommen. Ich muss jetzt noch lächeln, bei dieser Erinnerung, denn jeder Ort hat seine ganz eigene Energie, Ausstrahlung. Ich spürte ein innerliches Vibrieren im ganzen Körper. Für manche Menschen klingt das verrückt – für mich ist es logisch. Das energetische System erinnert sich.
Eine eindrückliche Begegnung verdeutlichte mir das nochmal: Kurz bevor wir wieder zum Hotel fahren wollten, folgten wir dem Impuls, zum Rathaus zu gehen. Auf dem Fußweg kamen wir an dem ältesten Haus im Ort vorbei, bei dem ein älterer Mann in einer Einfahrt stand. Wir lächelten und grüßten - auf einmal kam er auf uns zu.
Wir verstanden kein tschechisch, er kein Deutsch, auch englisch funktionierte nicht. Also zeigt meine Mutter ihm ein Bild von meinem Urgroßvater und nannte dessen Nachnamen. Auf einmal leuchteten die Augen des Mannes, er begann zu strahlen und zeigte aufgeregt in die Richtung, in der einst das Haus meiner (Ur)-Ur-großeltern stand. Wir bedankten uns und er wünschte uns alles Gute.
Für manch einen mag das wie eine ganz normale Begegnung klingen. Ich selbst glaube nicht an Zufälle. Ich glaube daran, dass immer das zusammengeführt wird, was zusammengehört. Wie viele unsichtbare Fäden müssen zusammenlaufen, damit eine solche Begegnung möglich ist? Es war verrückt und bestätigte mir einmal mehr, wie unbeschreiblich schön, aufregend und überraschend das Leben ist, wenn wir einfach nur unserem Gefühl folgen, unseren Impulsen und uns treiben lassen – anstatt alles zu versuchen zu kontrollieren und jeden Schritt im Voraus zu planen.
„Vieles ergab auf einmal Sinn und ich kehrte dankbar wieder in mein Leben zurück.“
Nach diesem Wochenende ergab vieles für mich Sinn, was ich durch meine Ausbildung zum Pussy Yoga Facilitator über mich selbst gelernt und erfahren habe. An dieser Stelle kommt die neue Wissenschaft der Epigenetik ins Spiel. Diese erforscht u.a., dass Traumata auch als Spuren im Erbgut von Generation zu Generation weitergegeben werden können und somit Verhaltensmuster oder sogar psychische Störungen begünstigt werden. Daraus ergeben sich manchmal unerklärliche Verhaltensmuster, die wir auf kein Erlebnis in unserem eigenen Leben zurückführen können, sondern diese sind genetisch in uns angelegt. Mir ist es an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass es nicht bedeutet, dass wir ein fremdgesteuertes Leben führen oder andere Generationen für unser Verhalten verantwortlich machen sollen. Die Eigenverantwortung für unser Leben liegt bei uns. Deshalb geht es mir in meiner Arbeit nicht darum, in Stammbäumen Probleme zu suchen, die Familiengeschichte zu heilen oder das eigene Verhalten zu über-analysieren, sondern die gespeicherte körperliche Erinnerung und das Gefühl dahinter anzunehmen, loszulassen und im eigenen Leben zu bleiben.
Mit diesem neutralen Blick habe ich durch dieses Wochenende einiges in Bezug auf mein eigenes Verhalten verstanden. Mein System erinnerte sich und es war wie ein Erwachen für mich. Die meisten meiner (Ur-)Großeltern sind bzw. waren sogenannte Sudetendeutsche. Ihnen wurde alles genommen, sie wurden vertrieben und kamen in ein fremdes Land. Gerade am Anfang waren sie nicht erwünscht, immer auf der Flucht…und für mich ergab vieles auf einmal Sinn, was mich in meinem Leben beschäftigte.
Ich warf keinen Blick mehr zurück, als wir nach Hause fuhren. Ich war in mich gekehrt, fühlte mich melancholisch und gleichzeitig dankbar. Diese Reise zu meinen Wurzeln war, als wäre ein Kapitel in meinem Buch des Lebens zu Ende gegangen. Es war für mich wichtig, einmal in meinem Leben physisch an diesem Ort zu sein, denn dort habe ich Abschied genommen…und ich kehrte wieder in die Gegenwart, in mein Leben, zurück.
Anmerkung: Dieser Artikel beruht einzig und allein auf persönlichen Erfahrungen, Empfindungen und Wahrnehmungen der Autorin. Er erhebt nicht den Anspruch wissenschaftlich fundiert zu sein.
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3 WochenSehr lesenswerter Artikel! So ehrliche, bewegende und gleichzeitig klare Worte sind zu einer absoluten Seltenheit geworden. Vielen Dank, dass Du uns an Deiner Reise teilhaben lässt Sarina Annika B. 🙏