Ich brauche deine volle Aufmerksamkeit!
Wir dürfen nicht stehen bleiben! Wir müssen die Zeit nutzen. Viele Menschen jammern das ganze Jahr über, dass sie zu wenig Zeit haben und jetzt haben wir alle Zeit der Welt und viele sind damit komplett überfordert. Das muss nicht sein. Für die persönliche Psychohygiene ist es wichtig, dass man gerade in solchen Krisensituationen eine sinnvolle Aufgabe hat. Der Schweizerische Arbeitnehmerverband 50Plus (SAVE 50Plus Schweiz) hat in diesen Tagen mehr zu arbeiten als je zuvor.
Distance-Learning ist angesagt! In Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Nordwestschweiz-Hochschule für Soziale Arbeit (FHNW) haben wir kurzerhand innert weniger Tage das schweizweit erste, einzige und umfangreiche 50+Online-Fachseminar aus der Perspektive der betroffenen, älteren Stellensuchenden zusammengestellt. 26 Studierende haben sich angemeldet und sind aktuell fleissig am arbeiten ;-)
Wir leisten Pionierarbeit
Eigentlich hat man mich angerufen um meinen Lehrauftrag in Olten am Freitag, den 27. März 2020 wegen der Coronakrise definitiv abzusagen. Doch so einfach wollte ich mich nicht damit abfinden. Schliesslich ist der Arbeitsmarkt50+ ein brandheisses Thema, dass gerade jetzt wegen der aktuellen Corona-Pandemie noch zusätzlich befeuert wird. Gemeinsam haben wir nach Lösungen gesucht und in der Onlineversion gefunden.
Wir dürfen vor lauter Virusangst nicht vergessen, dass es immer wieder Montag wird und die Probleme von heute dadurch in Zukunft nicht kleiner werden. Es ist mir ein ganz persönliches Anliegen, darauf aufmerksam zu machen, dass wir vor gewaltigen Herausforderungen stehen! Es braucht jetzt die absolute Solidarität in der Bevölkerung!
Es ging den meisten Menschen in der schönen und reichen Schweiz lange Zeit sehr gut. Aber leider nicht allen. Wenn ich heute (gut geschützt) über die Passarelle beim Bahnhof SBB in Basel laufe, dann ist fast kein Mensch zu sehen. Ausser diejenigen, die man sonst nie beachtet. Die Bettler, die Obdachlosen, die Armutsbetroffenen. Es sind heute die vermeintlichen «Stars» auf einer grossen skurrilen Bühne, die sie fast nur für sich alleine haben. Selbst jetzt bekommen sie keine Aufmerksamkeit, weil die «Zuschauer» gut geschützt Zuhause sind.
Altersarmut in der Schweiz
Ich brauche heute DEINE volle Aufmerksamkeit! Nicht für mich, sondern für diese arme, alte Frau, die so unscheinbar mit ihrem bisschen Hab und Gut an mir vorbeilaufen wollte. Natürlich mit einem Abstand von 2 Metern!
Ich sagte «Grüezi!» und sie war fast ein bisschen erschrocken und verängstigt, weil ein Wildfremder sie einfach so grüsste und ihr Aufmerksamkeit schenkte. Einen Augenblick später sah ich ein völlig anderes Bild! Sie strahlte mich an mit einem Gesicht voller Falten und ich bin mir sicher, dass dieser Mensch zu jeder Falte eine grosse leidenschaftliche Geschichte zu erzählen hätte. Ihre Augen glänzten und sie lachte mich fröhlich an und zeigte mir ihre paar übrig gebliebenen Zähne. Für mich war sie in diesem Moment die schönste Frau der Welt! Ein Sonnenschein in diesen trüben Tagen.
Sie erklärte kurz, aufgestellt und ungefragt «Grüezi! Grüezi! Ich mache jetzt ein bisschen Musik!» Und weg war sie. Ich ging auch ein paar Schritte weiter und blieb dann doch stehen, drehte mich um und schaute ihr gespannt zu, um herauszufinden was sie da eigentlich treibt (Bild). Einige Meter weiter hat sie offensichtlich ein ideales «Arbeitsplätzchen» für sich ausgemacht. Eifrig packte sie alles was sie da mit sich herumgeschleift hatte sorgfältig aus und tatsächlich kam so eine alte Jahrmarktsorgel zum Vorschein! Ich war gespannt und amüsiert. «Die macht ernst!» dachte ich. Nach einigem hin und her setzte sie sich hinter die Orgel auf einen kleinen blauen Plastikstuhl, legte eine Wolldecke über die Beine, lachte mich noch einmal herzhaft an und winkte kurz als sie bemerkte, dass ich immer noch da stand und sie beobachtete. Dann nahm sie einen kräftigen Schluck «Wasser» (so hoffe ich doch) und fing gefühlvoll, sanft und gleichmässig an der Kurbel an zu drehen. Alte Lieder, die man schon fast vergessen hatte. Das hat mich zutiefst berührt. Aber damit nicht genug! Sie fing jetzt auch noch an zu singen! «So schön können nur die Engel singen.» dachte ich. Was für ein Mensch!
Ich habe ihr meine Aufmerksamkeit geschenkt und wurde mit einem unvergesslich schönen Moment reichlich belohnt! Es braucht so wenig um einen Menschen glücklich zu machen und es kostet nichts. Für mich ist sie jetzt keine alte arme Frau mehr. Ich nenne sie «Martha», wie meine längst verstorbene Grossmutter, die ich sehr geliebt habe. Martha verdient allergrössten Respekt. Sie klagt nicht, sie jammert nicht. Sie lacht und macht Musik für die paar vermummten Menschen, die ihr ein wenig Aufmerksamkeit schenken. Viel kommt in diesen sonst schon schwierigen Zeiten nicht in ihr «Kässeli». Sie hat es vor der Orgel auf dem Boden gut sichtbar platziert. Aber wer kümmert sich um sie? Sie hat keinen Mundschutz, keine Hygienehandschuhe und kein Desinfektionsmittel. Sie hat aber etwas, dass sie offensichtlich trotz allem glücklich und unabhängig macht. Sie hat ihre tägliche «Arbeit»!
Liebe Martha, du bist nicht arm, du bist wertvoll
Man sieht einem Menschen nicht an, was in ihm steckt. Wir sollten uns jetzt und in Zukunft bemühen mehr Wertschätzung, Anstand und Respekt gegenüber anderen Menschen zu zeigen. Tag für Tag habe ich mit der Generation der «reifen Jugend 50Plus» zu tun und sie erzählen mir ihre Sorgen und ihre Lebensgeschichte. Manchmal fliessen bittere Tränen der Hoffnungslosigkeit und der Einsamkeit. Dabei ist doch jeder Mensch für sich selbst ein grosses Wunder in seinem eigenen Universum. Doch sie sitzen einfach da bei mir und fühlen sich völlig wertlos und hilflos.
Mich schmerzt das zutiefst.
Manchmal packt mich auch die nackte Wut wegen dieser «Ungerechtigkeiten», doch letztendlich hole ich genau dort meine Kraft, um solchen Menschen wieder neue Perspektiven aufzuzeigen damit sie wieder in den Arbeitsmarkt zurückfinden. Noch ist Zeit, die Altersarmut zu verhindern! Wenn sie dann aus meiner Beratung herausgehen schenken sie mir zum Abschied ein lächeln. Der Tag ist gerettet! So viele Talente und Fähigkeiten bleiben im Verborgenen und werden vielleicht nie entdeckt und ausgelebt. Wir dürfen diese Menschen nicht aufgeben.
Jeder Mensch ist es wert, dass man ihn fördert und unterstützt, wenn er in Not geraten ist! Es ist nicht damit getan, dass man erwerbslosen Menschen einfach Geld gibt, damit sie überleben können. Der Mensch braucht seine Arbeit! Das hat oberste Priorität! Der Mensch braucht Strukturen, Aufgaben und Ziele. Wir dürfen sie niemandem wegnehmen. Wir müssen umdenken und präventiv die Altersarmut mit aller Kraft verhindern. Wir müssen die «Enthumanisierung» beenden. Wir müssen endlich gemeinsam und solidarisch Verantwortung übernehmen!
Lasst uns aufhören mit dem digitalen Wahnsinn
Irgendwann zieht jemand den Stecker und wir sind wieder in der Steinzeit. Die Digitalisierung und Automatisierung soll dazu dienen dem Menschen das Leben zu erleichtern und nicht, um ihn arbeitslos werden zu lassen. Lasst uns die moderne Technik massvoll einsetzen so dass der Mensch wieder im Mittelpunkt steht. Ich sehe «ferngesteuerte Wesen», die von der modernen Technologie vollkommen abhängig geworden sind. Ich sehe erfahrene Fachkräfte, die im Sozialsystem gefangen sind und nicht mehr daran glauben jemals wieder ein normales Leben führen zu können.
Arbeit, Alter, Armut. In dieser Reihenfolge findet heute der soziale Verlustprozess statt. In der Schweiz gibt es immer mehr Menschen, die auf der Schattenseite leben. Unser Gesundheitssystem und unser Sozialsystem stehen auf dem Prüfstand. Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, dass wir wieder ein wenig menschlicher werden und über unsere Werte nachdenken. Unser Verband SAVE 50Plus Schweiz nutzt auch die moderne Technologie. Sie soll uns dienen. Dem Geist der Zeit gehorchend rüsten wir auf und lassen uns nicht beeindrucken und nicht ausbremsen. Es liegt noch sehr viel Sensibilisierungsarbeit vor uns.
Wir schützen uns
Wir bekommen immer mehr Anfragen von erfahrenen Fachkräften, sowie arbeits- und erwerbslosen Menschen, die sich jetzt noch viel mehr Sorgen um ihre Existenz und Zukunft machen. Wir arbeiten fast Tag und Nacht, um uns den neuen Gegebenheiten anzupassen. Wir wollen niemanden vergessen und niemanden im Stich lassen. Für die persönlichen Beratungsgespräche haben wir uns zusätzlich mit Schutzscheiben ausgerüstet. Und wir legen Schutzmasken, Hygienehandschuhe und Desinfektionsmittel bereit. Gruppenseminare werden eingestellt und finden nun im Einzelmentoring statt oder über Skype und/oder WhatsApp.
Mit unserem E-Learning-Fachseminar geben wir Studierenden wertvolle Inputs, die sie dann in ihre Institutionen hineintragen können. So sensibilisieren wir wirksam im Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt50+ und nehmen konstruktiv, positiven Einfluss auf die sozialen Institutionen.
Ab Montag, den 06. April 2020 ist diese interaktive Schulung auch für andere Interessierte verfügbar. Wir müssen bereit sein für den Tag danach, wenn diese Krise vorbei ist. Wir müssen die Zeit sinnvoll nutzen, um stark zu sein für die Herausforderungen, die noch auf uns zukommen.
ARBEIT ALTER ARMUT - Der soziale Verlustprozess
Dieses Online-Fachseminar ist für alle Menschen geeignet, die sich für das Thema Arbeitsmarkt50+ interessieren. Wir werden weitere spezifische Themen in dieser Form aufbereiten und anbieten. Zum Glück war das von Anfang an seit der Gründung von SAVE 50Plus Schweiz im Jahre 2013 in unser Gesamtkonzept mit eingebunden. Unser wichtigstes Angebot, das Fachseminar My Way 50Plus - Integratives Selbstmarketing, wurde von Beginn an kombiniert mit physischen und virtuellen Elementen.
Nachfolgend noch ein kurzes Begrüssungsvideo:
Herzlich willkommen!
ARBEIT ALTER ARMUT - Der soziale Verlustpozess
Erste Feedbacks von Studierenden
- Lieber Daniel, danke für deine Rückmeldungen! Ich fand das Online-Learning super! Sehr praxisnah und regt zum denken an. :-) Herzlichen Dank!
- Lieber Daniel, man hat gemerkt, dass du viel Arbeit in das E-Learning reingesteckt hast und mit Herzblut bei der Sache dabei bist. Vielen Dank!
- Lieber Daniel, danke für deine Bemühungen! Ich finde, du hast innert kurzer Zeit eine lehrreiche und interaktive Plattform geschaffen. Wir hatten in den vorherigen Modulen viele grundlegende theoretische Wissensbezüge zur Armut erlernt, und es war nun spannend, interaktiv zu sein. Die Fragen regten mich zum Denken und Reflektieren an. Das Hineinversetzen in einen armutsbetroffenen, arbeitslosen älteren Menschen hat mir sehr geholfen mir dieser Sichtweise bewusst zu werden.
- Lieber Daniel, mir wurde die Situation, die 50+ erleben, wenn sie in die Arbeitslosigkeit fallen, gut aufgezeigt. Es wird sich zeigen, wie die Politik und Gesellschaft den Baby-Boom aufgreifen wird und konstruktive Lösungen/Wege schafft, damit die hohe Arbeitslosenquote von ü50 nicht in das unendliche schiesst. Vielen Dank für dein Engagement!
- Lieber Daniel, toll, dass wir so ein Onlineseminar durchführen konnten! Ich denke, dass von deiner Seite viel Aufwand für diese Seminar betrieben wurde, danke dafür! Die Gliederung empfand ich als sinnvoll und nachvollziehbar. Alles in allem fand ich es einen spannenden Einblick in diese wichtige Thematik.
- Lieber Daniel, ich habe auch einen Vater der mit 57 Jahren arbeitslos geworden ist und ich werde ihm auf jeden Fall empfehlen sich mit dir in Verbindung zu setzen.
Danke, für deine volle Aufmerksamkeit!
Ich gratuliere dir zu diesem stimmigen und top aktuellen Text. Unglaublich, wie du dich für uns einsetzt und dadurch solch leidenschaftliche Zeilen zustande bringst. Die angebrochene Aera ist wahrhaftig eine noch grössere Herausforderung und hoffentlich auch eine neue Chance für uns, wer weiss?
(Un-)Ruhestand: offen für neue Stelle als Buchhalter. DAB+ gehört in jedes Fahrzeug
4 JahreSehr schön geschrieben Daniel G. Neugart Danke vielmals - das stimmt genau